wortwechsel
: Etwas Stoff zum Nachdenken

Die Mischung macht’s: Es geht um Hartz IV, interdisziplinäres ärztliches Arbeiten, Autopolitik, sozialdemokratisches Eigenlob und einen cineastischen Rückblick

Berauschende Aussicht für Leib und Magen Foto: Archiv

Fehlender Durchblick

„Hartz IV: Darf ’s noch etwas weniger sein?“, taz vom 4. 11. 19

Was soll uns dieser Kassenbon über Hartz-IV-Empfänger vermitteln?

Gewiss soll dieser Kassenbeleg nur beispielhaft darstellen, mit wie viel oder mit wie wenig Geld ein/e Hartz-IV-Empfänger/Empfängerin auskommen muss. Fünf Flaschen Edelobstbrand, also hochprozentiger Alkohol, am Ende des Bons ergänzen die Summe perfekt auf den derzeitigen Regelsatz von 424 Euro. Der taz hätte ich bei der Auswahl des Bildmaterials mehr Durchblick gewünscht.

Verena Schlossarek, Frankfurt am Main

Die Jobcenter-Pfeife

„Gericht setzt Grenzen für Hartz-IV-Sanktionen“, taz vom 6. 11. 19

Selbstverständlich, wenn man mehr als drei Jahre arbeitslos bleibt, dann landet man nicht nur unter der Armutsgrenze, sondern verliert auch die Lust, mit dem Jobcenter weiter mitzumachen. Die Aufgabe des Jobcenters ist, dem Arbeitslosen einen Job zu finden. Deswegen heißt das „Jobcenter“. Die Frage ist: Wenn das Jobcenter diese Aufgabe bis zu einer bestimmten Frist nicht erfüllt, muss der Arbeitslose trotzdem unbefristet mitmachen und nach jeder Jobcenter-Pfeife so lange tanzen, bis er in der Rente landet und weiterhin unter der Armutsgrenze lebt? Ist das nicht verfassungswidrig, wenn ein Mensch jahrelang arbeitslos bleibt, fünf Jahre, zehn Jahre und sogar länger? Wem muss man die Schuld geben? Dem Arbeitslosen? Was sagt das Grundgesetz dazu? Ali-Reza Hassanpour, Berlin

Rauschmittel für alle!

„Edelobstbrand für alle?“, Brief vom 6. 11. 19

Der Fehler lag natürlich entgegen den Leserzuschriften und der peinlichen Entschuldigung der Redaktion nicht darin, dass Hartz-IV-Beziehern „harter“ Alkoholkonsum unterstellt wurde. Natürlich berauschen sich Arbeitslose wie alle andern auch – wie viel gibt „die Redaktion“ monatlich für Rauschmittel aus? – und sogar, let’s face it, durchschnittlich mehr als andere. Der Fehler liegt selbstverständlich darin, dass sie weniger edle Sorten wählen werden. Ich selbst habe während meiner Hartz-IV-Zeit im Monat fünf bis sechs Flaschen Rum à 5,49 Euro geleert, es gibt ja Alternativen. Fünf Flaschen Schnaps im Monat, in Alkohol umgerechnet, entsprechen etwa zwei Flaschen oder einer Maß Bier täglich, also eine völlig gebräuchliche Menge für große Teile der Population. Es ist der Fassung der Überschrift zu jenem Leserbrief etwas modifiziert und ohne Fragezeichen zu folgen: Rauschmittel für alle! Manfred Eisenberg, Köln

An sich eine gute Sache

„Gesundheit von unten“, „Ambulante Versorgung in Deutschland“,

taz vom 5. 11. 19

Ein Gesundheitskollektiv, das interdisziplinär arbeitet, ist sicher eine gute Sache. Nur schade, dass PhysiotherapeutInnen dort auch weiterhin ausgeschlossen sind. Eine stärkere Koordination zwischen zum Beispiel Orthopäden und PhysiotherapeutInnen wäre doch in der Regel zu befürworten. Durch kassenärztliche Restriktionen sind nämlich die meisten ÄrztInnen (vor allem Orthopäden) wenig geneigt, ein Rezept für eine physiotherapeutische Behandlung auszustellen, auch wenn dies dringend geboten wäre. Viel lieber wird den PatientInnen eine fragwürdige IGeL-Leistung angeboten.

Helga Schneider-Ludorff, Oberursel

Gegen Frauen verlieren

„Die Holzbein-Gang“, taz vom 5. 11. 19

„Inklusion ist eine Selbstverständlichkeit“ – so steht es im Untertitel des Beitrags zur Para-Leichtathletik. Inklusion hat immer auch mit Diversität zu tun, nämlich mit der Berücksichtigung und Wertschätzung von Diversität. Und dabei geht es eben nicht nur um behindert versus nichtbehindert. Was will uns der Erfolgstrainer Karl-Heinz Düe dann mit dem folgenden Satz sagen: „Wer will schon gegen Frauen verlieren, egal ob die zwei Beine haben oder nicht“? Vielleicht sollte Herr Düe über den Begriff Inklusion noch mal nachdenken. Monika Rothweiler, Wilstedt

PR für VW

„Autos für die Generation ID.3“, taz vom 5. 11. 19

Liebe taz, das ist Tanz um das goldene Kalb und PR für VW! Der Diskurs ist doch längst weiter. Denn die Weiterentwicklung des elektrisch angetriebenen Individualverkehrs nach den Regeln eines den Konsum steigernden Wirtschaftswachstums wird nicht die notwendige CO2-Einsparung bringen. Das Schielen nach dem „Massenmarkt“ und die erhöhte Förderung für den Kauf eines neuen E-Autos sind zudem eine sozial einseitige Subventionierung, und der Gewinn für den globalen Klima- und Naturschutz ist, gemessen an der Höhe der Förderkosten, mehr als bescheiden. Die Förderung würde im Bereich Ausbau des ÖPNV im ländlichen Raum Besseres bewirken.

Das fantasielose Festhalten am eingefahrenen Mobilitätsmuster, das auf dem starken großen eigenen Auto basiert, entfaltet keine Lenkungswirkung in Richtung einer nachhaltigen Mobilitätswende. Deren Zukunft liegt zwar auch in einer ökologischen Verbesserung der Antriebe, aber mindestens gleichrangig, wenn nicht sogar wichtiger, sind Maßnahmen für die Vermeidung von Verkehr und die Verlagerung auf ökologischere Verkehrsträger. Gisela Bräuninger, Wackernheim

1.700 Prozent: tolle Bilanz

„Unsere sozial­demokratische Bilanz ist gut“, taz vom 6. 11. 19

Zumindest die Waffenexporte in die völkerrechtswidrig kriegführende Türkei können sich immer noch sehen lassen. Unser Außenminister Heiko Maas, SPD, hat ja dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass auch in den vergangenen Jahren die Rüstungsexporte in die Türkei sehr zurückhaltend gewesen sind und stets sehr restriktiv geprüft wurden: Genau genommen handelt es sich ja dabei auch nur um „Peanuts“:

Die Waffenexporte aus Deutschland in die Türkei betrugen 2014: 14 Millionen Euro; 2015: 26 Millionen; 2016: 49 Mil­lionen; 2017: 62 Millionen; 2018: 243 Millionen; und auch 2019 nur 250 Millionen Euro. Das heißt, unter sozialdemokratischen Außenministern haben die Waffenexporte in die Türkei in circa fünf Jahren nur um wenig mehr als 1.700 Prozent zugenommen – eine tolle Bilanz. Jetzt werden aber erst einmal die Altaufträge abgearbeitet, die neuen Aufträge werden vorerst nicht genehmigt, sondern noch strenger als bisher geprüft. Die Sozialdemokraten möchten doch nicht schuld sein, falls es in der Kriegsindustrie zu Lieferengpässen kommt. Gottfried Ohnmacht-Neugebauer, Reutlingen

Melancholie und Komik

„Das digitale Warten“, taz vom 5. 11. 19

Das ist ein sehr bedenkenswerter Artikel von Timo Reuter. Eine berührend-poetische (Fast-)Liebeserklärung an das Warten ist in dem weitgehend vergessenen Film „Berliner Ballade“ von 1948 zu sehen, eingefügt eher als kleine randläufige Betrachtung im Lied über das Warten mit einer zauberhaften Bildpoesie, die ihresgleichen sucht. Melancholie und Komik , wie sie den ganzen Film durchziehen mit „Otto Normalverbraucher“ in Gestalt des wunderbaren Gert Fröbe sind in diesem kleinen Lied komprimiert.

Dieser Film von 1948 aus der Nachkriegszeit mit der Geburt zweier ganz unterschiedlicher politischer Systeme, aber noch vor den offiziellen Staatsgründungen von BRD und DDR, ist auch ein eindringlich-unaufdringliches zeitkritisch- historisches Dokument, ohne dass der Film irgendeinen dokumentarischen Anspruch erhebt! Gert Fröbe hat diesen Film zeit seines Lebens als einen seiner besten angesehen, und es hat ihn bis zuletzt sehr geschmerzt, dass gerade dieser Film mit ihm in Deutschland wenig Beachtung fand – bis heute. Dabei könnte dieser Film, in einer Schule gezeigt, einen mehr über Geschichtliches und Kulturgeschichtliches (auch über das Warten) lernen lassen als viele Unterrichtsstunden! Gerhard Jung