Pogromgedenken in Israel: Es geht um das Leben!

Juden mit deutschen Wurzeln heißen in Israel Jeckes. Im November trauern sie um die Toten der Pogromnacht und feiern Lebenswillen und Tradition.

EIn historisches Bild: EIn Schiff legt an einem Hafen an.

Alija ist Hebräisch und bedeutet Einwanderung: Juden aus Europa erreichen 1947 Palästina Foto: Photo 12/Universal Images Group/getty images

MASSUAH taz | „Das war sehr aufregend heute“, sagt Tamar Landau. Die 87-jährige Dame sitzt im schwarz-weiß gemusterten Kleid auf einem Mäuerchen im Kibbuz Massuah und hält Hof. Umringt von älteren, wenn auch nicht ganz so alten Frauen und Männern, Grüße erwidernd, die letzten Neuigkeiten von Bekannten austauschend, ist Tamar Landau heute die Hauptperson. Erst vor ein paar Wochen hatte sie sich noch gewundert: „Wieso ausgerechnet ich etwas sagen soll?“

Dabei ist es gar keine Frage, dass die Jerusalemerin so einiges zu sagen hat. Denn Tamar Landau stammt aus Deutschland, genauer gesagt aus Beuthen in Oberschlesien, heute in Polen gelegen, und sie war knapp sieben Jahre alt in der Pogromnacht vor 81 Jahren, an diesem verfluchten 9. November 1938. Daran erinnert die Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft, so der etwas umständliche Name der Organisation, heute in dem Kibbuz, der auch eine Forschungseinrichtung über den Holocaust unterhält.

Es ist nicht so, dass der Novemberpogrom in Israel groß begangen wird, auch wenn die Schoah im Land der überlebenden Juden ständig präsent ist. Aber weniger der 9. November. „Wir sind, glaube ich, die Einzigen, die in Israel diesen Tag begehen“, hat die Direktorin Devorah Haberfeld zu Beginn der Gedenkveranstaltung gesagt. Drei Busse haben die Teilnehmer aus Tel Aviv, Jerusalem und Haifa an diesem Tag nach Massuah gebracht. Es ist der 10. November, denn der 9. fiel in diesem Jahr auf einen Sabbat, und da steht das öffentliche Leben weitgehend still.

Ein Kantor hat das Kaddisch, das jüdische Totengebet, gesprochen, die österreichische Botschafterin ist gekommen, der bundesdeutsche Konsul ist da. Also hat Tamar Landau aus ihrer Kindheit berichtet. Sie sagt über den 9. November 1938: „Dieser Tag war der Beginn meiner Leidenszeit.“ Und dann berichtet sie, wie Vater und Mutter kurz darauf mit ihr zum Bahnhof von Beuthen gegangen seien, weil sie fliehen mussten, wie sie zunächst in Kattowitz bei Verwandten unterkamen, bevor es in eine polnische Kleinstadt in der Nähe von Krakau weiterging. Wie die Wehrmacht die Stadt 1939 besetzte und die Familie wie alle Juden in ein Getto zwang. Wie sie nicht verstand, was da passierte und warum. Und wie die „Aktionen“ begannen.

Mutter, Schwester und Bruder deportiert

Bei einer solchen Massenverhaftung mit anschließender Deportation waren dann die Mutter, die Schwester und der Bruder verschwunden. „Ich wusste nicht, was mit ihnen passiert war. Ich blieb bei meinem Vater. Ich saß unter dem Tisch und hörte, was die Erwachsenen sprachen.“

Es ist nicht so, dass die anwesenden etwa 300 Zuhörer, die sich in dem fensterlosen Rundbau des Kibbuz versammelt haben, diese Geschichte nicht kennen würden. Für nahezu jeden von ihnen sind Auschwitz und die anderen Mordstätten nicht nur Orte der NS-Vernichtung, sondern auch Lager, in denen die eigenen Verwandten und Freunde ums Leben gekommen sind. Viele von ihnen, die schon in Israel geboren sind, kennen die Berichte von Deportationen, Lagern, Zwangsarbeit, von den Diskriminierungen, dem „Judenstern“, den SS-Männern in ihren Uniformen aus den Erzählungen ihrer eigenen Eltern.

Wenn die Eltern denn erzählt haben. Viele Überlebende verschlossen ihre Münder aus Furcht, dass die furchtbare Vergangenheit in ihr Leben zurückkehren könnte. Auch der Staat Israel kümmerte sich in seinen Anfangsjahren nur wenig um die Traumatisierungen der überlebenden Opfer. „Viele Jahre habe ich darüber nicht gesprochen“, sagt auch Tamar Landau.

Der Verein kommt in die Jahre

Diese damals Erwachsenen sind inzwischen längst verstorbenen. Die Kinder, die, so wie Tamar Landau, von dem Geschehenen berichten können, werden seltener. Doch der Verein der Jeckes, wie die deutschen Einwanderer der dreißiger und vierziger Jahre in Israel genannt werden, er existiert immer noch. Längst hat die dritte Generation die Geschäfte übernommen, und auch die kommt langsam in die Jahre.

Micha Limor, ein ehemaliger Fernsehreporter, der die Veranstaltung moderiert und dessen Vater 1933 aus Bayern nach Palästina einwanderte, ist auch schon im neunten Lebensjahrzehnt, Devorah Haberfeld bezieht Rente und arbeitet ehrenamtlich. Was geblieben ist, ist das Netz von Altersheimen, in Israel Elternheime genannt, in denen die Jeckes ihre letzten Lebensjahre in einer Umgebung verbringen können, in der die jeckischen Traditionen vom Nachmittagskaffee bis zum guten Buch gepflegt werden.

Zwei ältere Frauen lächeln in die Kamera. Die eine hat den Arm um die Schulter der anderen.

Devorah Haberfeld (li.) und Tamar Landau in Massuah. Foto: Elisah Even-Tov

Die Zahl der Jüngeren, die sich der Herkunft ihrer Urgroßeltern erinnern wollen und dazu im Jeckes-Verein aktiv werden, hält sich in engen Grenzen. Jüngere, sagt Haberfeld, deren Eltern aus Wien stammten, das seien für sie diejenigen jenseits der sechzig. Die Zeitschrift der Jeckes, Yakinton (Hyazinthe) genannt, wird wohl nicht mehr sehr lange erscheinen. Die Leser sterben weg. Die Zahl der deutschsprachigen Seiten des Magazins ist schon auf zwei reduziert worden.

Tamar Landau wird am 15. April 1945 befreit

Tamar Landau sitzt auf der Bühne neben Micha Limor und erzählt weiter. Von dem Transport nach Auschwitz und wie ihr Vater plötzlich nicht mehr da war. Davon, wie sie sich in die Schlange der „Arbeitsfähigen“ mogelte, obwohl sie erst elf Jahre zählte, und dadurch nicht sofort ins Gas kam. Von der Zwangsarbeit, dem Todesmarsch 1945 über 42 Tage, bis sie im Lager Bergen-Belsen ankamen. Von der Befreiung durch die Briten und dem Tod ihrer Cousine an exakt diesem Tag, dem 15. April 1945. Davon, dass sie nicht, wie angeboten, nach Schweden ausreisen wollte, weil sie doch hoffte, ihre Eltern wiederzusehen.

Aber eben auch das: Das Mädchen kam danach zuerst in ein Kinderheim im vornehmen Blankenese. Dort traf die 14-Jährige den ein Jahr älteren Simcha Landau, der die NS-Verfolgung versteckt in Berlin überstanden hatte. Es wurde die Liebe ihres Lebens. 1946 wanderte das Paar nach Palästina aus, das zwei Jahre später zu Israel wurde. Zwei Söhne sind geboren worden und eine Tochter. Sie begleitet heute ihre Mutter.

Tamar Landaus Geschichte mit all ihren Schrecken ist im Kibbuz Massuah auch eine Erinnerung an die eigene Herkunft. Wer kennt nicht die Geschichten der Einwanderung, auf Hebräisch Alija genannt? Und die Zusammenkunft ist nicht nur eine Gedenkveranstaltung, sondern eben auch eine Art Familientreffen, bei dem sich die Anwesenden treffen, das vergangene Jahr Revue passieren lassen und diejenigen betrauern, die nicht mehr unter ihnen weilen. Doch von Trauer ist die Veranstaltung dennoch nicht allein geprägt. Es geht um das Leben!

Marillenknödel, Apfelstrudel und Bratkartoffeln

Und so schwärmt Dana Zehngebot, deren heute 98-Jähriger Vater als Teenager aus Wien nach Palästina flüchten musste, im Bus zurück nach Tel Aviv von Marillenknödeln, Apfelstrudel und Bratkartoffeln aus der Heimatstadt ihres Vaters. Sie bedauert aufrichtig die fehlenden Kochkünste in Israel, was solcherlei Delikatessen betrifft, um zugleich zuzugeben: „Ich kann nur gut essen, nicht kochen.“

Zehngebot spricht gut Deutsch, das nur ein wenig holpert. Auch der Moderator Micha Limor hat die Sprache von seinen Eltern gelernt. Vielen älteren Jeckes ist der Einstieg in die fremde Sprache Hebräisch in den vierziger und fünfziger Jahren sehr schwer gefallen, manche haben sie nie richtig gelernt. Doch das sind vergangene Geschichten. Devorah Haberfeld spricht, wie alle hier, selbstverständlich perfekt die Landessprache, dafür mangelt es ihr wie den meisten an Kenntnissen des Deutschen.

Die Sprache der Vorfahren scheint jedoch nicht unbedingt nötig für eine jeckische Existenz zu sein. Pünktlichkeit und Verbindlichkeit sind nicht eben Tugenden, die in Israel ganz besonders ausgeprägt wären. Die ­Jeckes halten an ihnen fest, wenn sie auch im Land ihrer Vorfahren längst aus der Mode gekommen sind. Religion steht bei der Jeckes-Organisation eher weniger hoch im Kurs, dafür dominiert das Bekenntnis zu einer liberalen, ausgleichenden Politik.

Antisemitismus und Hass

Und schon gar nicht versteht Haberfeld ihre Organisation als romantisch-verklärenden Erinnerungsverein mit Blasmusik und deutschem Liedgut. Was gäbe es an Deutschlands Geschichte auch schon zu verklären? In Massuah gibt es an diesem Tag weder das eine noch das andere, dafür eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion, die sich mit der Frage nach der Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Hass auseinandersetzt.

Dazu gehört auch der Auftritt eines der Jüngsten, die heute in den Kibbuz gekommen sind. Jurin Hoffmann ist 19 Jahre alt und kommt aus Kassel. Seit zwei Monaten arbeitet er in einem Altersheim bei Tel Aviv, das nach dem ersten israelischen Justizminister Pinchas Rosen benannt ist – ein Jecke aus Berlin –, in einem freiwilligen sozialen Jahr der Aktion Sühnezeichen.

Hoffmann berichtet auf der Bühne von den Gesprächen mit den früheren deutschen Juden und wie beeindruckend deren Zeugnisse für ihn seien. Und er erinnert an den Mord an dem Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor wenigen Monaten nahe seiner Heimatstadt, begangen von einem Rechtsradikalen. „Es scheint, dass wir wieder Angst haben müssen vor dem, was da hochkommen könnte“, sagt Jurin Hoffmann. Er hat den richtigen Ton getroffen. Der Applaus donnert durch den Saal.

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