… weiter in die Unendlichkeit

Noëmi Lakmaier und Anna Berndtson zeigten Long Duration Performances auf dem Festival „No Limits“

Von Katrin Bettina Müller

Könnte sich jetzt das Dach des Hebbeltheaters öffnen, Noëmi Lakmaier würde geradewegs in den Nachthimmel aufsteigen und davonfliegen. Denn die britische Künstlerin bildet nur ein kleines Gewicht, einen Punkt, unter den Säulen von 20.000 heliumgefüllten Luftballons, die wie ein vielfarbiger Turm den ganzen Raum des Theatersaals füllen.

Ins Weite, ins Grenzenlose drängt diese temporäre Skulptur auf dem Festival „No limits“, den Titel auf das Schönste unterstreichend. Und ist doch ein widersprüchliches Bild, denn ebenso, wie die Ballons von Schnüren gehalten werden, ist auch der Körper der Performerin vielfach von Schnüren umwunden, nur den Kopf kann sie heben. Mitarbeiter fragen, wie es ihr geht, und verändern durch Ziehen an den Schnüren leicht ihre Lage.

Für die zehn Stunden Dauer der Performance hat sich Noëmi Lakmaier, die 2016 in einer Kirche in London so zum ersten Mal aufstieg, einen Katheter setzen lassen, denn pinkeln gehen ist nicht möglich. So lange unbeweglich liegen zu können, verlangt ein eigenes Training.

Die Einschränkung der Bewegungsmöglichkeit ist für die Künstlerin, die im Alltag auf einen Rollstuhl angewiesen ist, mehr als ein Bild. Der Schwerkraft trotzen, Anstrengung nicht sichtbar werden lassen – das ist ein Ideal im Ballett, das auch immer wieder infrage gestellt wird. Denn leugnet es nicht gerade den Körper? Seine Bedingtheit? Lakmaiers Performance „Cherophobia“ knüpft an diese Ambivalenz an und wendet das Bild noch einmal ins Utopische.

„No Limits“, das internationale Festival für „Disability & Performing Arts“ (bis 16. November), zeigte am Samstag noch eine zweite langanhaltende Performance, „Borg – again“ von der schwedischen Künstlerin Anna Berndtson, 2002 zum ersten Mal aufgeführt. Auch hier entstand die Spannung aus dem Gegensatz zwischen den äußerlichen Zeichen, die auf Sport und Aktion verweisen, und einer unendlichen Verlangsamung der Bewegung. In einem Feld von vielen Tennisbällen rückte Anna Berndtson im Tennisdress die Füße nur Zentimeter für Zentimeter vor, die Bälle mit einem stetig pendelnden Blindenstock zur Seite rollend.

Die Konturen ihres geraden Körpers schienen sich beim Zuschauen zu schärfen, man nahm ihr Innen und ihr Außen und die Grenze dazwischen bewusst wahr. Dem Leistungsdruck des Sports und seinen Normsetzungen von Geschwindigkeit begegnet sie mit der Entwicklung eines individuellen, von den Uhren abgekoppelten Zeitmaßes.

Wenn man auch durch den Kontext des Festivals wusste, dass es sich bei beiden Performerinnen um Menschen mit Behinderungen handelt, so gehen ihre Konzepte doch über die Thematisierung der disability hinaus. Aus der Beschäftigung mit den eigenen Grenzen entwickelten beide großartige Bilder, die gegen die Grenzen des vermeintlich Allgemeingültigen rebellieren, mit poetischem Eigensinn, sensueller Sensibilität und einer entschiedenen Ästhetik.

„No Limits“ findet zum elften Mal in Berlin statt, die Künstler kommen aus mehr als zehn Ländern und von vier Kontinenten. Dass viele der eingeladenen Projekte von behinderten Künstler*innen auch selbst verantwortet werden, ist dem Kurator Michael Turinsky ein großes Anliegen.