Sehnsucht nach draußen

Matteo Marziano Graziano spekuliert mit Kräfteverhältnissen jenseits der Determinierung zwischenmenschlicher Beziehungen

Von Astrid Kaminski

Es sieht aus, als wäre der Boden einer Sporthalle auf halber Strecke nach oben geklappt. Die mit silbernem Klebeband angebrachten reduzierten Geometrien machen jedoch direkt deutlich, dass es sich eher nicht um Feldermarkierungen mit rein diesseitigem Bezug handelt. Bühnenwände, die nach oben geklappte Böden sind, scheinen sich inzwischen als Stilmittel durchzusetzen, um die Endlichkeit des Bühnenraums mit der Unendlichkeit kosmischer Weiten zu verbinden. Eine Startbahn in den Kosmos. Und generell scheint die Premiere „Deep Sky Objects“ des Opernregisseurs*, Performers* und Choreografen* Matteo Marziano Graziano, eine der Eröffnungsperformances der Herbstausgabe von Open Spaces in der Tanzfabrik im Wedding, ein Spiel mit Stilmitteln, bei dem die Komponenten queer markierter (Weltraum-)Kunst bekannt, die Spielregeln aber rätselhaft sind.

Ein Team aus acht Per­for­mer*innen wirkt wie in den Raum reinprojiziert. Größtenteils frontal zum Publikum ausgerichtet, strahlen sie wie Buddha-Statuen eine Präsenz aus, die sie als Bewohner*innen zweier Welten erscheinen lässt: einer materiellen und einer immateriellen. Vielleicht lassen sie innerlich ein Tuningmantra wirken, während sie gleichzeitig die Energiefrequenz der Besucher*innen channeln. Die Garderobe ist mit Strings, angedeuteter Tunika, Radlerhosen, blickdurchlässigen Oberteilen in Schwarzweißtönen und Sternennebelfarben zwischen urban-sportlich und queeren Party­outfits gehalten – als gäbe es einen Dresscode und strenge Bouncer an den Pforten des Alls. Vorsorglich wurden daher vielleicht Artgenossen ohne stylisches Jugend-Make-up zu Hause gelassen. Wobei die Referenzen an Opart, Sinuskurven, Obertonspektren, eine hyperrealistisch wirkende Stimmapparat-Endloskopie sowie eine Schlüsselszene aus Robert Zemeckis’ Sci-Fi-Film „Contact“ auch auf ein ästhetisches Flair vor den Nullerjahren verweisen.

Als „Deep Sky Objects“ werden in der Amateurastronomie Himmelskörper wie Sternhaufen, Nebel und Galaxien außerhalb unseres Sonnensystems bezeichnet. Graziano wandelt sich diesen Begriff für eine spekulative Raumexpedition an, in der das Channeling von Raumenergien und Symbolen als Grundlage für teilimprovisierte Bewegungsdynamiken dient, die um Nähe und Ferne, Affekt und Isolation kreisen.

Eine Zentrifugalkraft scheint die Arme in gleichgerichtete Bahnen zu versetzen oder wie verwinkelte Antennen magnetische Wellen abfangen zu lassen, die dann Signale auf die stets angespannten Restkörper senden. Mal bewegen sie sich, als seien sie Lichtjahre voneinander entfernt, mal, als würden sie von einer Vektorenrechnung erfasst, dann wieder, als seien sie in eine Sphäre eingetreten, in der Liebe nicht affektgebunden, sondern durchdringende Substanz ist: reine Zuwendung ohne On-Off-Dynamiken.

In den letzten Jahren haben sich im queeren Utopie-Dystopie-Performance-­Kontext vor allem zwei Strömungen her­auskristallisiert: eine eher an Cyberpunk anknüpfende „schmutzige“ Ästhetik, die Darkroom, Tiefenpsychologie, Horrorgenres und Verweigerungsstrategien verbindet, und eine eher an Afrofuturismus orientierte „Space is the place“-Sehnsucht, die den Weltraum als Zuflucht begreift und modebewussten Narzissmus als Empowerment einsetzt.

Graziano stellt sich klar in letztere Linie. Die aber lässt in einem der Subkultur entwachsenen Kontext im Grenzbereich von Mode, Lifestyle und Kunst immer auch die Frage aufkommen, ob die Imperative „Be beautiful“ und „Act beautifully“ reine Oberflächentextur oder als Aneignung von Lebensqualität (für die Performer*innen) relevant sind. „Deep Sky Objects“ lässt zweifeln und doch hier und da Schönheit aufblitzen, die nicht zu schön ist.

Open Spaces läuft noch bis zum 11. November in der Tanzfabrik Wedding/Uferstudios