Buch zur Soziologie der Gesellschaft: Wenn's läuft, dann läuft's

Armin Nassehis gefeiertes Buch „Muster“ möchte eine Theorie der digitalen Gesellschaft sein. Unser Autor entdeckt darin nur Systemtheologie.

Armin Nassehi

Armin Nassehi ist einer der bekanntesten Soziologen Deutschlands Foto: picture alliance/Horst Galuschka/dpa

Das wird man einen Aufschlag nach Maß nennen dürfen: Der erste Satz in Armin Nassehis „Theorie der digitalen Gesellschaft“ lautet: „Dieses Buch will eine soziologische Theorie der digitalen Gesellschaft präsentieren.“ Im vierten Satz bereits heißt es dann: „Es hat noch nie recht geholfen, Gesellschaft an nur einem Merkmal festzumachen.“ Und vier Sätze weiter liest der nunmehr auf allerhand gefasste Leser: „Natürlich ist die Gesellschaft, in der wir leben, keine digitale Gesellschaft in dem Sinne, dass alles, was darin geschieht, sich über die Digitalität einer Technik erschließen ließe.“

Ginge es nach den Soziologen en vogue, lebten wir in jeder Saison in einer neuen Gesellschaft – auf die Risiko- folgten die Erlebnis-, die Bürger- und die Wissens- bis zur x-ten Wer-weiß-wie-Gesellschaft und zur dreifach gesprungenen Multi-Options-Gesellschaft. Luhmann hielt von derlei „Theorien“ gar nichts, denn sie verdanken ihre Existenz vor allem der Tatsache, dass sich Substantive im Deutschen fast beliebig verleimen lassen.

Nassehi geht es auch nicht ernsthaft um die „Theorie der digitalen Gesellschaft“, die der Untertitel verspricht, sondern um den Nachweis, „dass die gesellschaftliche Moderne immer schon digital war“. Mit der historischen Situierung dieses „Immer-schon“ hält es Nassehi so wie die Systemtheorie mit allem Geschichtlichen – locker-unverbindlich und offen für Spekulatives. Nassehi schwankt zwischen der „Frühzeit der Moderne“ und dem „18./19. Jahrhundert“, als Gesellschaften in Zahlen statistisch erfasst und so für Planung und Prognosen aufbereitet wurden.

Diese zeitliche Fixierung der „Initialzündung einer digitalisierten Gesellschaft“ ist gelinde gesagt willkürlich und empirisch gesehen völlig spekulativ. Bereits im Alten Testament heißt es, „aber du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet (Spr. Salomon 11,21) und mit Sicherheit ist weder der ägyptische Pyramidenbau, noch der römische Städtebau mit seiner raffinierten Wasserversorgung, noch der Bau gotischer Kathedralen denkbar ohne die Vermessung, d. h. zahlenmäßige Erfassung von Material- und Arbeitskräftebedarfen, also statistischen Erhebungen von Daten und Informationen aller Art.

Beginnende Moderne

Für die These, dass „der Siegeszug der Digitalisierung in der Gesellschaftsstruktur selbst“ der beginnenden Moderne begründet liege, bringt Nassehi keine historisch belastbaren Belege. Seine Hinweise beruhen auf zirkulären Beweisführungen oder der auf Schritt und Tritt anzutreffenden, Argumentationswege verkürzenden Floskel, dies oder jenes sei „letztlich“ dem oder jenem geschuldet. In der Welt der Daten und Informationen geht es nicht um die Welt, sondern nur noch um Zeichen für diese, die „letztlich (!) nur noch auf sich selbst verweisen“.

Armin Nassehi: „Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft“. C. H. Beck, München 2019, 352 S., 26 Euro

„Alle Operationen sind Verdoppelungen der Welt, die letztlich (!) nur auf sich selbst verweisen.“ Neben zirkulären Beweisführungen sind es Tautologien nach dem Muster von Luhmanns Grundthesen, „jedes System tut, was es tut“, „wenn es läuft, dann läuft es“, die auch Nassehi auf jeder zweiten Seite bewirtschaftet. Hinter solchen Tautologien verbergen sich die nicht explizierten geschichtsphilosophisch grundierten Implikationen der Theorie der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und ihrer der Neurobiologie entliehenen Antriebsmechanik („Autopoiesis“/„Selbstschaffung“).

Zwanzig Jahre nach Luhmanns Tod sind es nur noch Hard-core-Luhmanninis vom Schlage Armin Nassehis oder Dirk Baeckers, die der seit der Bankenkrise in eine Sackgasse geratenen Systemtheorie die Treue halten. Die Bankenkrise hat ganze Buchregale mit systemtheoretischer Sonntagsprosa zu Makulatur gemacht: „Die Politik kann die Wirtschaft bestenfalls in der Weise beeinflussen, dass sie ihr Geld entzieht“, hieß es bis vorgestern bei den Systemtheologen. Und heute darf die Politik zahlen und bürgen für das, was „dem System“ im Lauf der Jahre so eingefallen ist zur Steigerung der Renditen.

Diejenigen, die gestern noch vor Eingriffen in den vermeintlichen Selbstlauf des Markts warnten, behaupten nun großspurig, die Deregulierung, die sie selbst predigten, sei eine „Illusion“ gewesen. Gleichzeitig halten sie an ihrem politischen Konformismus fest und bezeichnen Kapitalismuskritik wie alle Kritik und Emanzipationsansprüche für systemisch nicht vorgesehen und obsolete Träume „alteuropäischer“ Subjektivitätskons­trukte.

Systemversagen

Denn: „Das System hat ja nicht versagt. Es hat ganz im Gegenteil den Weg der Krise gefunden, um aus einer Fehlentwicklung gigantischen Ausmaßes, nämlich dem Glauben an eine Wachstumsökonomie ohne jeden Rückschlag, auszusteigen und auf die Illusionen hinzuweisen, die seinem Glauben zugrunde lagen. (…) Das System hat perfekt funktioniert. Und es hat bewiesen, dass wir es nach wie vor mit einem Kapitalismus zu tun haben, der selbstverständlich Zukunftswetten abschließt (…) Überwänden wir den Kapitalismus, hätten wir keinen Korrekturmechanismus mehr“ (Dirk Baecker).

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Diese Prosa folgt wie jene Nassehis bis in die Diktion den ganz alten theologischen Rechtfertigungsmustern: Gott (oder das System der funktionalen Differenzierung) schuf die Beste aller Welten.

Als 1755 das Erdbeben von Lissabon das christliche wie das nicht mehr christliche Europa erschütterte, entblödeten sich christliche Theologen nicht, die Katastrophe mit Rechtfertigungsschleim zu überziehen: Gott bzw. das System habe „nur“ gezeigt, dass er bzw. es auch Erdbeben könne, um zu beweisen, wie perfekt er funktioniere. „Was funktioniert, das funktioniert“ (Luhmann).

Nassehi geht es um den Nachweis, dass „das Soziale eben nicht mehr als etwas vorgestellt werden kann, was in erster Linie von den Intentionen und dem Wollen von Akteuren abhängt“, sondern von Mittlern und Vermittlern („institutionellen Generatoren“), die andere Mittler dazu bringen, zu tun, was sie tun sollen. Und es geht ihm auch nicht um die Rettung von Privatheit, die „es nie gegeben hat“, vor dem Zugriff durch Big Data, denn „Big Data ist letztlich (!) nur eine Vervollkommnung der quantitativen Erfassung und Vermessung der Gesellschaft, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hatte“ oder – nach älterer Lesart – in der Welt des Alten Testaments …

Es fragt sich, wofür Theorien, die nur noch dazu dienen, „an sich selbst Halt“ (Luhmann) zu suchen und zu finden, gut sind. Die Rettung aus dem selbst gegrabenen Loch funktionierte bereits beim Baron von Münchhausen nicht so richtig.

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