Die Radikalen von nebenan

Erklärung zur politischen Lage: Pressekonferenz in der Flora im Mai 2007, vor dem Gipfel der Außenminister in Hamburg und dem G8-Treffen in Heiligendamm. Links vorn im Publikum der langjährige Flora-Korrespondent der taz, Kai von Appen Foto: Christian Charisius/Reuters

Das Phantom der Flora

Das autonome Zentrum im Schanzenviertel ist so stabil wie das System, das es bekämpft

„Keimzellen der Kriminalität wie die Rote Flora müssen konsequent geschlossen werden“

Die CSU legt im Januar 2018 auf ihrer Klausurtagung in Kloster Seeon nach

Von Benno Schirrmeister

Umstritten ist sie wirklich nicht. Wenn es etwas gibt, das in Deutschland die Gesellschaft stabilisiert, den Staat erhält und breitest möglichen Konsens herstellt, dann ist es die Rote Flora. Sie lässt sich beschreiben als ein imaginäres, psycho-soziales Arrangement, eine Vorstellung, die von annähernd der gesamten Gesellschaft geteilt – nur eben unterschiedlich bewertet wird: Was den einen als heroischer Selbstentwurf dient, ist den anderen ein Feindbild.

Beides sind Phantasmen, deren Zweck es natürlich ist, Realität zu verdecken. Bei aller zur Schau getragenen Feindseligkeit begründet dieses gemeinsame Interesse eine unausgesprochene Komplizenschaft: „regierung stuerzen“ trägt das Schriftband auf der Titelseite des Webauftritts der Rotfloristen die Revolutionsfolklore unmissverständlich und mit drei Ausrufezeichen garniert vor sich her. „vielleicht nicht heute oder morgen aber uebermorgen“, tröstet sie dann über den Parousie-Verzug hinweg. „steter tropfen hoehlt den stein“. Hat meine Ommi auch schon gesagt.

Hochwertige Revolte-Preziosen

Einziger Schmuck der knallroten Site ist, in Weiß, das Logo – ein Zündapparat, wie er für Sprengungen genutzt wird: Eleganz, das ist ein Gesetz der bürgerlichen Ästhetik, entsteht durch Verzicht auf alles Überflüssige. Dass man hier mit hochwertigen Revolte-Preziosen bedient wird, ermöglicht der Gegenseite, sobald sie sich profilieren muss, den rhetorischen Frontalangriff: Muss geräumt werden! Hart durchgreifen! Endlich einen Riegel vor!

Solche Forderungen kommen gut an bei besorgten Bürgern. Die AfD erhebt sie regelmäßig, wenn irgendwo in Hamburg eine Fensterscheibe zu Bruch gegangen ist. Die Rechtsausleger der örtlichen CDU stimmen ein, während die intelligenteren Exponenten sich bedeckt halten: Schließlich haben sie nicht vergessen, dass die Forderung, den Widerpart niederzumachen und zu demütigen, selbst im Rahmen einer Koalition mit einer extrem rechten Partei nicht zu realisieren war: Only promise, what you can fulfil.

Bemerkenswert ist aber vor allem das auffällige Engagement der CSU, also von Größen, deren Wirkungskreis jegliche die Flora betreffende Maßnahme ausschließt. Und deren WählerInnen diese auch völlig egal sein dürften: Für Menschen in Roßholzen oder Gergweis hat der Fortbestand der „Roten Flora“ keinerlei Relevanz. Sie wissen auch nichts über sie: und Politiker wie Andreas Scheuer, damals CSU-Generalsekretär, kennt auch nur den Namen der Einrichtung, als er, am 10. Juli 2017, gleich nach dem G20-Gipfel an die Öffentlichkeit tritt. Sanft gelenkt vom Stichwortgeber des n-tv: „Wir können Rigaer Straße“ – ein Wohnprojekt in der feindlichen preußischen Hauptstadt – „und Rote Flora nicht tolerieren.“

Klar: Selig, wer die Lösung aller Probleme verkünden kann, sofern er sie nicht selbst herbeiführen muss. Weshalb die bayerische Christenunion die Forderung bei den Koalitionsverhandlungen 2018 gleich noch einmal wiederholt hat, um sie, wie Bitcoins, gegen Zugeständnisse im Reich des Faktischen eintauschen zu können.

„Bei den linksextremen Demokratiefeinden wird schon zu lange weggeschaut. Es ist Zeit, rechtsfreie Räume zu beenden und linke Propaganda-Höhlen wie die Rote Flora in Hamburg endgültig auszuheben“

Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) nach der G20-Randale im Juli 2017 zur „Bild am Sonntag“

Dass die Rote Flora als Kryptowährung im politischen Streit Kurs hat, ist für sie selbst profitabel: Nicht nur Feindbilder, auch Selbstentwürfe werden erfolgreicher, je mehr sie ermöglichen, das Reale zu überschreiben. Nichts stärkt in dieser Hinsicht mehr, als wenn ein putativer Gegner die eigene Stärke und Bedrohlichkeit bezeugt. Es ist sicher lästig und bedrohlich, aber eben auch schmeichelhaft, unter hohem finanziellem Einsatz ausgekundschaftet, also für interessant befunden zu werden. Das stiftet Sinn: Man kann als Exponent einer kommenden Weltordnung herrlich arrogant auf den „Strudel der Hamburger Provinzpolitik“ blicken, in den man geraten sei. Und es ist möglich, sich in der Siebdruckwerstatt als Teil einer Revolution zu wähnen, die nicht heute, nicht morgen, aber ganz sicher irgendwann, also nie, stattfindet, und trotzdem produktiv zu werden.

Extensive Feind-Zitate

Von beiden Seiten genutzte extensive „Feind“-Zitate ermöglichen das wechselseitige Verhältnis für beide als profitabel zu bestimmen. Fast wie bei einem Dienstleister kann der Staat Gewalt bei der Roten Flora bestellen. Er muss nur ein zwei Hebel drücken, und sie wird geliefert, was wiederum einen ganzen Apparat an Repression legitimiert: Der von vornherein örtlich eng begrenzte und planbare Ausnahmezustand ist der beste Garant dafür, ihn unter Kontrolle zu bekommen und das Gewaltmonopol zu bestätigen. Das ist, im Gegensatz zum autoritären Entwurf der AfD, in einem Staat, der auf Pluralität setzt, eine komplizierte Sache. Die Benenn- und Zeigbarkeit des Anderen des Staats erleichtert sie sehr und ist insofern ein großer Dienst an der Demokratie.

Sprich: Solange es die Rote Flora gibt, ist das System stabil. Und: Solange das System stabil ist, wird es die Rote Flora geben.

„Ich kann mich komplett frei bewegen“

Die Flora ist nicht nur ein Ort, an dem politische Manifeste verfasst werden. Jugendliche gehen dort auch gern feiern. Ein Schüler erklärt, warum

Moritz

17, besucht eine Stadtteilschule in Hamburg

Protokoll Mahé Crüsemann

Es gibt viele Gründe, warum ich in die Rote Flora gehe. Die Flora ist ja ein Zentrum und nicht ausschließlich eine Gruppe, die Demos oder so veranstaltet. Die bieten ja vieles Verschiedenes an.

Ich war zum Beispiel schon oft in der Fahrradwerkstatt. Jedes Mal sein Fahrrad zum Fahrradladen zu bringen, ist schon sehr teuer auf die Dauer. In der Werkstatt in der Flora wird einem geholfen, und irgendwann kann man es dann selber. Beim Laden geht man halt hin, bezahlt dafür, dass es repariert wird, und so geht es dann auch weiter.

Am häufigsten gehe ich zum Feiern hin. Es sind fünf Euro Eintritt, das geht voll klar, finde ich. Und der Eintritt kostet immer gleich viel, auch wenn mal jemand Bekannteres auftritt. Es ist ein Konzept, das Mut macht, das Inspiration gibt, wie man sich selbst organisieren kann, ohne krasse Hierarchien zu haben oder auf den Staat angewiesen zu sein. Selbstorganisation ist ja in der linken Szene ein wichtiges Thema und in der Roten Flora klappt das halt.

In der Flora treten sehr verschiedene DJs und Künstler auf. Wenn sie bei den Konzerten Rap spielen, dann ist das meistens live. Ein sehr guter Freund von mir hat zum Beispiel angefangen zu rappen und hat in der Flora jetzt auch schon einige Auftritte gehabt. Obwohl er eigentlich noch sehr unbekannt ist, wurde ihm da eine Fläche geboten. Da ist echt jeder willkommen, außer vielleicht Zivis (Zivilpolizisten, Anm. d. Red.).

Man kann einfach ganz unverbindlich reingehen und sich was zu trinken kaufen und die Musik genießen. Ich habe nicht das Gefühl, dass man da so stark kontrolliert wird. Klar, es gibt auch ’ne Tür, die ein bisschen darauf achtet, dass vor der Flora nichts passiert. Die achten zum Beispiel darauf, dass Leute nicht unbedingt noch rein gehen, wenn sie schon einen übern Durst haben. Ich habe das Gefühl, ich kann mich in der Flora komplett frei bewegen. Alle achten aufeinander. Wenn beim Tanzen zum Beispiel jemand hinfällt, dann versuchen alle direkt, demjenigen wieder aufzuhelfen.

Ich bin gar nicht so der Klubgänger. Meistens gehe ich eher in Bars. Ganz selten gehen wir mal auf die Reeperbahn, das Typische. Aber da muss man viel zahlen für den Eintritt und für die Getränke, und dann sind da auch oft Leute, die vielleicht andere Meinungen vertreten.

In der Flora fühle ich mich einfach wohl. Da gibt es einen sehr breiten Konsens. Es gab mal einen Vorfall, wo jemand in der Flora einen Hitlergruß gezeigt hat. Der wurde direkt rausgeschmissen. Der Rausschmiss wäre in anderen Klubs vielleicht auch passiert, aber in der Flora ist es ganz klar: So was geht überhaupt nicht.

Wenn man in der Flora jemanden kennenlernt, der auch aktiv ist, dann hat man Gesprächsthemen und kann sich ein bisschen politisch austauschen. Aber wenn man hingeht, um einfach nur mit seinen Freunden zu feiern, geht das natürlich auch. Ich glaube, dass das ein Ort ist, wo viele Menschen das erste Mal politisiert werden. Man kommt einfach mit Politik in Kontakt, dadurch, dass die Flora sehr links gestaltet ist.

Ich kenne kaum Hamburger Linke, die noch nie in der Flora waren. Es ist auf jeden Fall schon das linke Zentrum in Hamburg. Selbst in Deutschland ist es ja eins der bekanntesten. Was ich ganz wichtig finde und was die Flora auch vielleicht noch mal ganz besonders macht, ist, dass das Schulterblatt sich sehr gewandelt hat. Das Schulterblatt ist ja einer der letzten Orte, die die linke Szene widerspiegeln können. Da ist es schon ein bisschen absurd, was für Läden da aufgemacht haben, was für Menschen da verdrängt werden. Und das durch die Gentrifizierung, die ja nur stattfindet, weil die Schanze zu so einem interessanten Viertel geworden ist durch diese linke Vernetzung, diese aber verdrängt wird.

Die Flora ist aber dadurch noch ein bisschen offener geworden für Menschen, die nicht so politisch sind. Das bringt natürlich Vor- und Nachteile mit sich. Auf der einen Seite findet man jetzt Menschen, die sich politisieren lassen. Auf der anderen Seite auch andere, die da jetzt mit einem ganz anderen Vorhaben hingehen, schon mit einem Aggressionspotenzial. Die kommen meistens nicht zur Flora um zu feiern, sondern um zu provozieren. Das stört mich ein bisschen.

Morgengrauen auf dem Balkon

Wer lang genug in die Flora ging, lernte irgendwann Leute kennen, die den Schlüssel hatten. Von da an gehörte man fast schon zum inneren Kreis

Ich hatte noch nicht gecheckt, dass man in der Flora keine Nationalflaggen malt, auch keine südamerikanischen

Von Katharina Schipkowski

An das erste Mal, als ich die Flora betreten habe, kann ich mich nicht so genau erinnern. Ich glaube, ich war noch sehr klein und es war mit meinen Eltern. Es muss ein Tag der offenen Tür oder so was gewesen sein, und wir wohnten im Schanzenviertel. Ich kann mich nur an die beeindruckend großen Räume erinnern.

Präsenter ist mir die Zeit, als ich immer mittwochs ins Art Café ging, so mit 16 oder 17 Jahren. Das Art Café gibt es schon lange nicht mehr. Es war eigentlich genau wie das Dub Café, das immer dienstags war, nur dass beim Dub Café Dub aufgelegt wurde und beim Art Café eher Reggae, und dass es mittwochs immer Stifte, Farben und Papier gab – man konnte also kreativ werden. Und dabei kiffen und Tee trinken, aber das ging selbstverständlich auch dienstags.

Einmal habe ich mit Acrylfarben eine Uruguay-Flagge an die Wand gemalt, da kam ich gerade aus meinem Austauschjahr und war mit den Gedanken noch in Südamerika. Ich hatte noch nicht gecheckt, dass man in der Flora keine Nationalflaggen malt, auch keine südamerikanischen. Es hat sich aber niemand beschwert.

Irgendwann habe ich Leute kennengelernt, die einen Flora-Schlüssel hatten und Zugang zum Balkon und so. Das waren so belesene Punks, die sehr dunklen Tabak geraucht haben. Einer hat noch bei seinen Eltern gewohnt, die Anwälte waren, sein Zimmer war schwarz-rot gestrichen. Im Morgengrauen auf dem Flora-Balkon zu sitzen und aufs Schulterblatt zu gucken, war ziemlich cool. Einige von den Leuten, die damals dabei waren, sehe ich heute noch in der Flora.

Einmal hatte ich wirklich Angst um die Flora. Das war am 7. Juli 2017, als während des G20-Gipfels Scharfschützen ins Schanzenviertel stürmten. Es hieß: „Die Polizei ist in der Flora, jetzt wird geräumt.“ Ich hab den Flora-Sprecher Andreas Blechschmidt angerufen, um zu fragen, ob es stimmt, aber er ging nicht ran.

Ich saß mit ein paar Leuten in einer Bar, 300 Meter außerhalb des Schanzenviertels, im Fernsehen liefen die Bilder, die wir kurz zuvor mit eigenen Augen gesehen hatten. Ich konnte mir eigentlich nicht vorstellen, dass die Polizei jetzt wirklich die Flora räumt. „Weißt du, was dann hier los wäre?“, fragte ich einen Freund. „Das will niemand!“ Wir haben um einen Kasten Bier gewettet – ich natürlich gegen die Räumung.

Kurze Zeit später rief An­dreas Blechschmidt zurück und gab Entwarnung. Den Kasten Bier habe ich bis heute nicht bekommen. Aber ich habe gemerkt, was es für mich bedeuten würde, wenn die Flora wirklich geräumt würde. Zum Glück will das fast niemand.

Brandgeruch in der Nase

1995 brannte das in der Flora ansässige Archiv der sozialen Bewegungen. Viele Papiere wurden gerettet, heute ist es noch größer als vor dem Brand

Von Andreas Speit

Akten neben Akten, Mappen auf Mappen, Broschüren hier, Flugblätter da. Im ersten Stock der Roten Flora befindet sich das „Archiv der Sozialen Bewegungen“, das ebenfalls das 30-Jährige Bestehen feiert. Seit 1989 archivieren die Mitarbeiter Materialien und katalogisieren Zeitschriften, Broschüren, Texte, Zeitungsartikel, Flugblätter und Plakate. Denn das Archiv möchte das „kollektive Gedächtnis“ der sozialen Bewegung sein und der Öffentlichkeit die politischen Quellen zugänglich machen.

Am Montagnachmittag kann das Archiv besucht werden, Termine können auch nach Absprache getroffen werden. Rechter Seiteneingang, Klingelknopf links oben. „Bis heute bringen Aktive uns ihre privaten Sammlungen“, sagt ein Mitarbeiter des Archivs. Selbst wenn Gruppen oder Bewegungen zusammenbrechen, würde das darum kaum zum Verlust des Materials oder der Debatten führen.

Der Anfangsbestand kam aus dem Infoladen Schwarzmarkt und dem Foto-Archiv-Kollektiv. Die Archivierungsstruktur orientiert sich an den Aktionsfeldern der sozialen Bewegungen, Stichworte sind „Umstrukturierung“, „FrauenLesbenTransgender“, „Antirassismus“, „Antifaschismus“, „Internationalismus“, „Anti-AKW“, „Soziale Kontrolle“, „Knast und Justiz“ und vieles mehr. Daneben führt das Archiv rund 80 Titel als Freiabos.

Die staatlichen Archive und Bibliotheken verfügten nur über wenig Material dieser sogenannten „grauen Literatur“, heißt es auf der Webseite des Archivs, das nach eigener Auskunft von „unbezahlter Arbeit“ getragen wird. Träger ist „Zeitpunkte – Verein zur Förderung der politischen Bildung“.

Wie wichtig es ist, ein Archiv aus der linken Szene zu haben, zeigte sich 2011. In Eisenach wollte die Polizei zwei Bankräuber stellen – und stieß zufällig auf das NSU-Kerntrio. Doch die ersten Bilder von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate ­Zschäpe kamen nicht von den großen Redaktionen, sondern von den antifaschistischen Archiven – in den 90er-Jahren hatten sich die Medien kaum für die rechtsextreme Szene interessiert.

Wenn man früher rechts die Balustrade hoch durch die Fenster schaute, saß dort eine Mitarbeiterin, die Material der rechten Szene archivierte und analysierte. Solche Bestände aus der vordigitalen Zeit helfen noch heute, die Biografien rechter Personen nachzuvollziehen. Wer stand im Impressum eines Szenemagazins? Wer unterzeichnete Einladungen?

Als im November 1995 das Archiv und mit ihm der ganze erste Stock ausbrannten, sei das ein schwerer Schlag gewesen, sagt ein Archivmitarbeiter. Feuer und Wasser sind die Feinde eines Archivs. Noch heute habe er den Brandgeruch in der Nase. Drei Jahre lang war das Archiv in Übergangsräumen. 1998 zogen sie zurück. Über 200 Personen bildeten den „Paper-Move“, um den Bestand zurück in die Flora zu tragen.

Heute ist der Bestand größer als vor dem Brand. Die Materialien sollen nicht bloß politischen Initiativen nutzen. Auch für Hausarbeiten und Referate könne reingeschaut werden, schreibt das Archiv auf seiner Webseite. Ein Angebot, das der Staatsschutz nicht so gern sehen dürfte.