Gar nicht so leicht, die Sache mit der Moral

ATZE-Theaterleiter Thomas Sutter inszeniert mit „Albirea“ eine Fantasygeschichte. Am Samstag wurde die bislang größte Produktion des Hauses uraufgeführt

Futuristische Kostüme, uralte Konflikte Foto: David Ausserhofer

Von Linda Gerner

Wie erzeugt man eine mystische Stimmung auf der Bühne? Grünes Licht, ein verwunschenes Waldbild und stimmungsvolle Orchestermusik? Dreimal „Check“ für den Anfang des Musiktheaterstücks „Albirea – Nur ein Kind kann die Welt retten“ im Atze Musiktheater in Berlin-Wedding.

Das hier eine Fantasy­geschichte inszeniert wird, verraten die Kostüme der Darstellenden: Funkige Silberhemden treffen auf einen wallend-orangefarbenen Federmantel. Natürlich gibt es viel Glitzer und Masken. Irgendwie ist man hier in der Zukunft verortet – und trotzdem sprechen alle wie im Mittelalter. So solle es also geschehen, Konzentration jetzt, wir sind im Theater.

Das Stück aus der Feder von Thomas Sutter, „Albirea“, richtet sich an Kinder ab zehn Jahren und ist mit 22 Schau­spieler*innen und Musi­ker*in­nen die bislang größte Produktion des Atze Musiktheaters. Theaterautor Sutter leitet das Haus seit 15 Jahren und hat bei seinem Stück auch Regie geführt. Er nimmt die Zuschauenden mit in eine Welt, in der das Schicksal der Menschen von drei widerstreitenden Geistern bestimmt wird. Vereinfacht gesagt geht es um Gut gegen Böse – aber Sutter sucht auch nach dem Gleichgewicht zwischen den Extremen.

Geist Draco liebt es, Zwietracht zwischen den Menschen zu säen, und streitet sich am liebsten mit Auriga. Sie verleiht den Menschen Lebenssterne und tritt für Individualität und Freiheit ein. Zwei Gegen­spie­ler*innen mit starken, konträren Emotionen, die den dritten Geist Albireo herausfordern. Er möchte die Waage ­zwischen Glück und Unglück, Recht und Unrecht sein – und scheitert. Draco gewinnt mit seinen Intrigen die Menschen für sich, die Kraft von Auriga schwindet. Zu allem Überfluss lebt diese Gesellschaft in einem dystopischen Szenario, in dem keine Kinder mehr geboren werden.

Eine Welt, in der sich alte Menschen über Macht und Gier in die Haare bekommen, in der Vernunft wegen eigener Eitelkeiten keinen Platz mehr hat, braucht wohl eine „pubertierende Besserwisserin“, die ihnen die Augen öffnet. Diese Aufgabe fällt dem letztgeborenen Kind zu – einem Mädchen –, das bislang nur mit Tieren im Wald aufgewachsen ist. Sie kennt weder Dracos Macht noch sein Verbot, kritische Nachfragen zu stellen. Ihr ständiges „Warum“ symbolisiert das Plädoyer des Stücks für mehr kindliche Neugier, das postwendende Zusammenzucken der Erwachsenen ist ein Fingerzeig auf Prinzipien­reiterei.

Der Vergleich drängt sich auf, aber Sutter hat mit dem Mädchen Albirea keine Rolle nach Vorbild von Greta Thunberg geschaffen. Die Urfassung des Stückes schrieb er bereits vor zehn Jahren, die heutige Aktualität habe ihn selbst überrascht. Doch wo Thunberg klare Handlungsaufforderungen raushaut, sich empört, versucht Albirea zu verstehen: „Ich soll die Welt retten? Das kann ich nicht.“

Singend und fauchend er­innert sie sich schließlich an die Quelle der Weisheit: „Das Wort des anderen wiegt so schwer wie mein eigenes.“ Durch repetitive, eingängige Songs sorgt das Stück dafür, dass kein Kind solche Schlüsselsätze verpasst und sie so vielleicht zusammen mit Worten wie „Vermaledeiung“ und „ausmerzen“ mit den Eltern auf den Nachhauseweg diskutieren kann. Eine stetige Aufmerksamkeitslenkung für das junge Publikum gibt es in „Albirea“ dabei auf der visuellen und auditiven Ebene. Die Schauspielenden singen und klettern auf hohen Podesten und einem Steg inmitten des Publikums.

Der Vergleich drängt sich auf, aber Albirea soll keine Greta Thunberg darstellen

Das Bühnenbild mit minütlich wechselnden Videoinstallationen von Marc Jungreithmeier erlaubt Schattenspiele, humoristische Slow-Motions oder verwandelt die Bühne in einen lodernden Waldbrand. Darin steckt viel Liebe zum Detail – und viel Geld, verrät Thomas Sutter. Die Videotechnik anzuschaffen sei für das Haus nicht günstig gewesen. Das Bühnenbild wird von einer Sound­kulisse verstärkt, in der es rasselt, knallt und quietscht – und damit sind noch nicht die wunderbaren, eigens für das Stück komponierten Werke des Kammerorchesters unter der Leitung von Sinem Altan genannt.

An Fahrt verliert das Stück zeitweise durch pathetische Betrachtungen über Lebenssterne oder das Universum. Musikalische und inhaltliche Assoziationen zum Rätsel der Sphinx oder der maulenden Myrte aus den Harry-Potter-Verfilmungen lockern die Geschichte auf, aber Monologe über die Ewigkeit laufen Gefahr, auch ewig zu wirken. Entwickelt sich die Geschichte manchmal etwas schleppend, bietet die Choreografie von Katja Richter ständige Abwechslung. Da gibt es athletische Kampfszenen und tanzende Nasenküsse zu sehen – und für das Gleichgewicht auch mal einen längeren Monolog im Yoga-Kopfstand.

Am Ende siegt Empathie über Egoismus, ein harmonisches Zusammenleben der Menschen ist mit Weisheit möglich. Und doch: Nach Ende des Stücks erklärt ein junger Zuschauer, dass ihm am besten der machtgierige Draco gefallen habe. Gar nicht so leicht, dieses Pochen auf die Moral.

Albirea – Nur ein Kind kann die Welt retten, Atze Musiktheater, Luxemburger Straße 20, Berlin-Wedding, wieder am 30. 10., 10.30 Uhr, Karten 10 Euro