Protest global

Algerien: Protest als Fest

Jeden Freitag seit nunmehr 36 Wochen gehen Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Menschen in Algeriens Hauptstadt Algier und anderen Städten friedlich und festlich auf die Straße und fordern einen vollständigen Bruch mit dem Herrschaftssystem des im April zurückgetretenen Präsident Abdelaziz Bouteflika. Seit der Festsetzung des 12. Dezember als Termin für Neuwahlen durch die vom Militär gestellte Übergangsregierung lebt die „Hirak“ genannte Protestbewegung wieder auf: Sie fordert vor Wahlen Reformen und eine nicht vom alten Regime dominierte Übergangsregierung. Mehrere Hunderttausend Menschen gingen dafür am Freitag wieder auf die Straße, aus allen Bevölkerungsschichten und Altersgruppen. Der kommende Freitag dürfte als 65. Jahrestag der blutig erkämpften algerischen Unabhängigkeit zum neuen Höhepunkt werden.

Libanon: Hand in Hand

Die Massenproteste, die Libanon seit zehn Tagen erschüttern, nehmen kein Ende. Am Sonntag wollten die Demonstranten, die sämtliche Bevölkerungsgruppen des Landes im Protest gegen die regierenden Eliten vertreten, eine 170 Kilometer lange Menschenkette quer durch das Land bilden. „Die Idee ist, das Bild eines Libanon zu zeigen, der von Nord bis Süd den Sektierismus ablehnt; wir halten Hände unter der libanesischen Flagge“, sagte ein Organisator. Die Proteste, die sich zunächst gegen Steuererhöhungen richteten, wenden sich inzwischen gegen die Aufteilung des Staates auf religiöser Basis zwischen den immer gleichen Führern und legen das ganze Land lahm. Ihre Entschlossenheit steigt, seit am Samstag auf einem Sicherheitstreffen der Regierung beschlossen wurde, blockierte Straßen mit Gewalt zu räumen. Am Samstag fielen erstmals Schüsse in der Stadt Tripoli.

Irak: Über 200 Tote

Mit Iraks Flagge auf der Flucht vor dem Tränengas, 25. Oktober Foto: reuters

Jeden Tag sterben mittlerweile Menschen bei den immer wieder neu aufflammenden Protesten im Irak. Nach Angaben der irakischen Menschenrechtskommission kamen seit Freitag landesweit 63 Menschen ums Leben, mehr als 2.000 weitere wurden verletzt. Die Zahl der Toten seit Beginn der Proteste stieg damit auf 220. Parlamentarier, die dem radikalen Schiiten-Anführer Moktada al-Sadr nahestehen, schlossen sich am Wochenende den Protesten an. Seit Donnerstagabend halten Demonstranten den Tahrir-Platz in Bagdad besetzt; Augenzeugen zufolge setzten Sicherheitskräfte in der Nacht zum Sonntag erneut massiv Tränengas ein. Auslöser der Proteste waren ursprünglich die schlechte Strom- und Wasserversorgung. Inzwischen richten sie sich gegen die gesamte politische und religiöse Elite.

Guinea: Für Verfassung

Mit Guineas Verfassung gegen den Präsidenten, 24. Oktober Foto: afp

Mit bis zu einer Million Demonstranten nach zwei Wochen Dauerprotest unter der Parole „Amoulanfe“ (Kein Durchkommen) hat Guineas Opposition am Donnerstag den Druck auf Präsident Alpha Condé erhöht, damit er seine Pläne einer Verfassungsänderung für eine dritte gewählte Amtszeit zurücknimmt. Der 81-jährige Condé, selbst einst verfolgter Oppositioneller, ist seit 2010 an der Macht. Rund ein Dutzend Menschen wurden bei den seit 14. Oktober währenden Protesten getötet, fünf Oppositionsführer zu Haftstrafen verurteilt. Ab Montag soll ein Generalstreik Guinea lahmlegen, vor neuen Protesten am Mittwoch.

Äthiopien: Abiy in Nöten

Bei den Massenprotesten in Äthiopien sind bis Freitag 67 Menschen getötet worden, sagten die Behörden am Wochenende und kündigten die Entsendung von Militär in sieben Distrikte an. Auslöser der Proteste war, dass die Regierung dem aus dem Exil zurückgekehrten oppositionellen Medienaktivisten Jawar Mohammed die Leibwache entziehen wollte. Die Unruhen weiteten sich schnell auf mehrere Städte aus und brachten Ministerpräsident Abiy Ahmed kurz nach dessen Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis in Bedrängnis. Abiy warnte am Samstag vor Versuchen, Äthiopien „in eine ethnische und religiöse Krise“ zu stürzen.

Hongkong: Kein Ende

Mit Großbritanniens Flagge für Freiheit in Hongkong, 23. Oktober Foto: ap

In Hongkong gingen die seit fünf Monaten währenden Proteste am Sonntag weiter. Die Demonstrationen richteten sich anfänglich gegen ein geplantes Gesetz, das Auslieferungen an die Volksrepublik China ermöglichen sollte. Mittlerweile richten sie sich generell gegen die prochinesische Führung in Hongkong und fordern Demokratie. Am Sonntag schimpften Demonstranten über „Gangster-Cops“ und bewarfen die Polizei nach Polizeiangaben mit „harten Gegenständen und Regenschirmen“. Die Polizei reagierte mit Tränengas, Pfefferspray und Gummigeschossen.

Bolivien: „Wahlbetrug!“

Mehrere Tausend Menschen haben am Samstag in Bolivien gegen die Erklärung des Obersten Wahlgerichts protestiert, das am Freitag den Sieg von Amtsinhaber Evo Morales bereits in der ersten Runde der Präsidentenwahl bestätigt hatte. Oppositionskandidat Carlos Mesa sprach von Wahlbetrug. Morales erklärte seine Bereitschaft, den Ausgang der Wahl durch die OAS überprüfen zu lassen. Die EU, die ­Bundesregierung und andere Staaten forderten, in jedem Fall eine Stichwahl durchzuführen. Das lehnt Morales unter Verweis auf das Wahlgesetz ab.

Chile: 1,2 Millionen Menschen gegen Piñera

Mit Chiles Flagge gegen die Regierung, 26. Oktober Foto: Rodrigo Abd/ap

Unter dem Druck von beispiellosen Massenprotesten hat Chiles Staatschef Sebastián Piñera seine gesamte Regierung entlassen. Er habe alle Minister zum Rücktritt aufgefordert, sagte Piñera am Samstag. Die Ausgangssperre in der Hauptstadt Santiago de Chile wurde nach einer Woche wieder aufgehoben. Am Freitag waren in Chile rund 1,2 Million Menschen gegen den konservativen Präsidenten auf die Straße gegangen. Es war eine der größten Demonstrationen, die es je in Chile gegeben hatte.

Die Proteste richten sich gegen die wirtschaftliche Benachteiligung weiter Bevölkerungskreise und das ultraliberale Wirtschaftsmodell, das in der Diktatur unter General Augusto Pinochet (1973–1990) entwickelt und seit der Rückkehr Chiles zur Demokratie kaum infrage gestellt wurde. Die Proteste waren eine Woche zuvor durch gestiegene U-Bahn-Preise ausgelöst worden. Piñeras Regierung nahm die Preiserhöhung zwar rasch zurück und kündigte Sozialreformen an, unter anderem eine Erhöhung der Mindestrente und des Mindestlohns. Ein Ende der Demonstrationen konnte der Milliardär damit aber nicht erreichen. Innerhalb kurzer Zeit weiteten sie sich zu Massenprotesten gegen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Land insgesamt aus.

Die Demonstranten, die am Freitag durch die Hauptstadt zogen, forderten Piñeras Rücktritt und grundlegende Wirtschaftsreformen. Sie schwenkten chilenische Flaggen und sangen Widerstandslieder aus der Zeit der Pinochet-Diktatur. Als die Demonstranten am Präsidentenpalast vorbeizogen, riefen sie Parolen gegen Piñera und das Militär.

Piñera stellte am Samstag auch in Aussicht, den in Santiago und weiteren Regionen Chiles geltenden Ausnahmezustand am Sonntag aufzuheben – wenn die Umstände dies erlaubten. Das Militär teilte mit, dass die nächtliche Ausgangssperre in Santiago bereits am Samstagabend aufgehoben worden sei.

Am Samstag gab es nur vereinzelt Demonstrationen. Es blieb weitgehend friedlich. Nur vor dem Präsidentenpalast in der Hauptstadt setzte die Polizei Wasserwerfer gegen rund hundert Demonstranten ein. Auch die Militärpräsenz war sichtbar reduziert. In den vergangenen Tagen hatten Menschenrechtsorganisationen vollkommen überzogene Gewalt von Militär und Polizei gegen die Protestierenden beklagt. Auch Berichte über Folter und Misshandlungen von Festgenommenen häuften sich. Seit Beginn der Proteste waren mindestens 19 Menschen getötet und mehr als 580 verletzt worden.

Katalonien: Für und gegen Unabhängigkeit

Mit Kataloniens Farben für die Freiheit der Separatistenführer, 26. Oktober Foto: ap

Unter dem Motto „Für die Eintracht, für Katalonien. Schluss jetzt!“, haben am Sonntag rund 80.000 Menschen in Barcelona für die Einheit Spaniens demonstriert. Zu dem Protest aufgerufen hatte die Katalanische Zivilgesellschaft (SCC). Die Mobilisierung wurde von der in Madrid regierenden sozialistischen PSOE über die konservative Partido Popular (PP), die rechtsliberale Ciudadanos (Cs) bis hin zu ultrarechten Vox unterstützt.

Unter den Teilnehmern befanden sich Josep Borrell, der in der neuen EU-Kommission das Außenressort innehat. „Wir werden Zeugen von Gewalt, wie wir sie seit der Industriekrise in den 1980ern nicht mehr gesehen haben“, erklärte der aus Katalonien stammende Sozialist. Der PP-Vorsitzende Pablo Casado und Cs-Chef Albert Rivera nutzten die gewalttätigen Zwischenfälle der beiden vergangenen Wochen, die rund 600 Verletzte hinterließen, um die Regierung in Madrid aufzufordern, Katalonien erneut unter Zwangsverwaltung zu stellen.

Bereits am Samstagabend waren ebenfalls in Barcelona Hunderttausende dem Ruf von rund 160 Organisationen, Parteien und Gewerkschaften gefolgt. Unter dem Motto „Freiheit“ protestierten Befürworter der Unabhängigkeit gegen die Verurteilung von neun katalanischen Politikern und Aktivisten zu 9 bis 13 Jahren Haft in Zusammenhang mit dem 2017 abgehaltenen Unabhängigkeitsreferendum. Die Stadtpolizei sprach von 350.000 Teilnehmern. „Dieser politische Konflikt wird sich weder mit Richtern noch mit Repression oder Polizeigewalt lösen lassen“, erklärte Marcel Mauri, Vize-Vorsitzender der Kulturvereinigung Òmnium.

„Wir werden es wieder tun“, beteuerte der katalanische Regierungschef Quim Torra, dem Urteil zum Trotz. Torra forderte Madrid erneut zu einen Dialog auf. Sein Ziel ist eine Abstimmung über die Unabhängigkeit, wie in Schottland. „Es gibt kein Selbstbestimmungsrecht“, keine Demokratie erkenne dies an, konterte die Vize-Regierungschefin aus Madrid, Carmen Calvo, Torra.

Nach der Kundgebung zogen über zehntausend Menschen vor das Kommissariat der spanischen Nationalpolizei in Barcelona und warfen, als Symbol für die in den letzten Tagen eingesetzten Gummigeschosse, Gummibälle über die Polizeiabsperrung. Es kam zu schweren Auseinandersetzung mit der Polizei.

Fast unbemerkt von Presse und Öffentlichkeit fand ebenfalls bereits am Samstagvormittag eine weitere Kundgebung vor dem Sitz der katalanischen Regierung statt. „Parlem“ – „Sprechen wir!“ – lautete das Motto der in Weiß gekleideten Teilnehmer. Kamen vor zwei Jahren unter dem gleichen Motto noch mehrere Tausend zusammen, waren es jetzt noch rund Hundert. Reiner Wandler, Madrid