Film „Küchenpsychologie“: Paddeln mit den Dämonen

Die Künstlerin Marie Weil hat einen Film über die Bewältigung ihrer Psychose gedreht. Er läuft auf den Hofer Filmtagen.

Tonfiguren

Selbstgebaute Alter Egos: Tonfiguren aus „Küchenpsychologie“ Foto: Justin Time

BERLIN taz | Vielleicht ist am Ende doch alles gut – wenn die Freundinnen und Freunde durch den Wald gehen, im Gänsemarsch, jeder trägt eine Schüssel oder einen Teller mit Salat, Früchten, Gemüse, Kuchen. Die Gruppe singt im Kanon ein Kinderlied: „Finster, finster, finster, finster, nur der Glühwurm glüht im Ginster, und der Uhu ruft im Grunde. Geisterstunde.“

Man könnte eine Psychose als Geisterstunde bezeichnen, als ein Hineingeworfensein in einen vor- und frühsprachlichen Raum, wenn Dinge, Bilder, Personen, Stimmen mit neuen Bedeutungen, Verbindungen aufgeladen werden, die andere Menschen nicht nachvollziehen können. Die Berliner Künstlerin Marie Johanna Weil hat solche Phasen durchlebt und über ihren Selbstheilungsversuch einen Film gedreht, der auf den Hofer Filmtagen am vergangenen Mittwoch Premiere hatte und dort auch am Samstag und Sonntag zu sehen ist.

Der Film „Küchenpsychologie – über das Verrücken“ arbeitet mit der Spannung zwischen Bildern, Erzählerinstimme und Experteninterviews. Aus dem Off berichtet die 42-jährige Autorin in ruhigem Ton von ihrer Einweisung in die Psychia­trie. Ihre Hände basteln derweil aus einem Schuhkarton eine Art Puppenhaus und stellen Betten aus Pappe hinein. Bunte Bonbons werden hineingekippt, das sind die Psychopharmaka. Die Psychia­trie ist nicht das durchgängig Böse, aber eben auch nicht besonders hilfreich. Eindeutige Schuldzuweisungen an die Psychia­trie, die Familie, die Gesellschaft, die Biochemie gibt es in dem Film nicht, insofern unterscheidet sich der Film von anderen Dokumentationen über die Psychiatrie und Psychosekranke.

Verrückte Urgroßmutter

Als sie aus der Klinik heraus ist, beginnen die Heilungsversuche. Weil, die an der Universität der Künste in Berlin bildende Kunst studiert hat, baut aus Ton große, klobige Tonfiguren mit groben Gesichtern, einige mit Haaren, andere ohne. Die Figuren sollen Alter Egos von ihr sein und Verwandte. Die eine, die größte, stellt die Urgroßmutter dar. Die Urgroßmutter trug einmal frisch gekochtes Essen nicht zu Tisch, sondern kippte es direkt ins Klo mit der Aussage, da würde es später ohnehin landen. Fortan galt sie als verrückt.

Ist das Genetik, das mit dem Verrücktwerden? Es gibt etwas erhöhte Risiken, wenn in der Verwandtschaft schon Leute betroffen sind, sagt Stephan Ripke, Genetiker und einer der im Film interviewten Experten. Aber: „Die meisten Sachen sind unklar.“

„Küchenpsychologie – über das Verrücken“. Regie: Marie Johanna Weil. Deutschland 2019, 50 Minuten.

Hilfreicher als unbewiesene Theorien ist eine gewisse Akzeptanz. Weil ordnet die Tonfiguren immer ein wenig anders an, fährt sie in der Schubkarre herum, legt sie auf den Komposthaufen, begießt sie, nimmt sie auseinander und füllt ihre Hohlräume mit Erde, in die sie Pflanzen setzt. Eine Tonfigur steht im Bug des Kanus, als sie durch ein Fließ paddelt. Es ist besser, die Dämonen ein bisschen herumzuschippern, als sie verjagen zu wollen.

Von ihren konkreten Wahn­inhalten in der Krise spricht Weil nicht, um keinen Voyeurismus zu bedienen, wie sie später im Interview sagt. Aber von dem Gefühl, neben sich zu stehen, nicht im Körper zu sein, die Seinsgewissheit, die „ontologische Sicherheit“ nicht zu haben, davon erzählt sie. Die ­Vernichtungsangst, wenn ­außen und innen ineinanderstürzen, die können vielleicht auch Nichtbetroffene ahnen. „Es ging mir darum, Verbindung herzustellen, Gemeinsames zu zeigen“, sagt Weil.

Sich erden in der Krise

Die Natur, das Ländliche, die Nahrung, das Essen, FreundInnen, die dableiben, auch wenn es mal schwierig wird – das ist die heilende Bildsprache im Film. Da werden Tomaten gepflanzt, Kartoffeln ausgegraben, Möhren geschält, es wird Teig angerührt. Weils FreundInnen sind in einer großen Landküche mit der Vorbereitung eines Festmahls zugange.

Weil erzählt unterdessen aus dem Off von Existenzängsten der Vorfahren, dem Weltbild der Aufklärung, das die Mystik ausschloss, dem Wunsch, zwei Identitäten haben zu können, eine, die beobachtet, distanziert und absichert, und eine, die sich mitten hineinbegibt in eine eigene, mystische Welterfahrung. Die Küchenszene signalisiert: Man kann sich auch im „Verrücken“ erden, sich vergemeinschaften.

Nachdem der Kanon von der Finsternis gesungen ist, sitzt die Gruppe auf einer Wiese unter freiem Himmel um einen Tisch und verspeist das Selbstgekochte. Eine Psychoanalytikerin ist dabei, ein selbst ernannter Schamane, der Genetiker. Sie alle hatten im Film etwas zum „Verrücken“ gesagt, aus ihren unterschiedlichen Perspektiven, von denen keine den Anspruch erhebt, die einzig wahre zu sein. „Die Wahrheit weiß keiner“, hatte Ripke erklärt. Vielleicht könnten im Umgang mit dem Wahn diese Vielfalt der Sichtweisen, die Akzeptanz des Rätsels und ein gewisser Pragmatismus ein Fortschritt sein, der wirklich hilfreich ist.

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