Zweite Chance für ausgeflippte Kinder

Sie kommen aus sozial schwierigen Verhältnissen, sind aggressiv und haben Sprachstörungen: Verhaltensauffällige Kinder erhalten an Sonderschulen für Erziehungshilfe wie der Eduard-Mörike-Schule in Köln die Chance, zur Regelschule zu wechseln

aus Köln CHRISTIANE MARTIN

Als Mathias* ein Kleinkind war, trennten sich seine Eltern. Kein außergewöhnliches Schicksal heutzutage, doch Mathias litt unter den vielen Streitereien, die auch auf seinem Rücken ausgetragen wurden, ganz besonders: Er reagierte mit auffällig aggressivem Verhalten. Als er eingeschult werden sollte, war klar, dass eine Regelschule für ihn nicht in Frage kam.

Mathias wurde Schüler an einer der sieben Kölner Sonderschulen für Erziehungshilfe, der Eduard-Mörike-Schule in Köln-Porz. „Er schmiss Tische und Stühle durchs Klassenzimmer, trat, biss, spuckte“, erinnert sich seine Lehrerin Petra Lieder. Mathias sei regelmäßig ausgeflippt, vor allem bei Frustrationserlebnissen, wenn er etwas nicht konnte oder meinte nicht zu können. Doch nach fünf Jahren an der Schule für Erziehungshilfe, in denen er in einer kleinen, ungefähr zehn Schüler umfassenden Klasse besonders gefördert worden war, konnte er auf eine normale Hauptschule wechseln. Dort macht er jetzt seinen Abschluss.

„Die Geschichte von Mathias ist typisch für unsere Schüler“, sagt Richard Bürvenich, Rektor an der Kölner „E-Schule“. Über 120 Kinder wie Mathias mit emotionalen und sozialen Problemen werden hier von ihm und seinem 22-köpfigen Kollegium unterrichtet. Sie kommen direkt nach der Kindergartenzeit oder – wie in den meisten Fällen – später, weil sie an der Regelschule aus dem Rahmen fallen, hier nicht mehr ausreichend gefördert werden können und ihre Lehrer oder das Jugendamt einen Wechsel auf die Sonderschule empfehlen. Sie kommen aus sozial schwierigen Verhältnissen und sind verwahrlost oder leiden am Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, haben Sprachstörungen, sind Autisten oder zeigen neurotische Symptome.

An Schulen wie der Eduard-Mörike-Schule bekommen sie ein neue Chance, auch auf eine Rehabilitation. „Unser Ziel ist die Rückschulung“, sagt Bürvenich und meint damit, dass die Kinder irgendwann so wie Mathias wieder auf eine Regelschule gehen können. Im Schnitt schaffen das laut Schulamt etwa die Hälfte der Schüler an den Kölner E-Schulen. Die anderen können hier einen Hauptschulabschluss machen.

Im Mittelpunkt des Schulkonzeptes steht das Klassenlehrerprinzip. An der Eduard-Mörike-Schule ist, wie an allen anderen E-Schulen, ein Lehrer für eine Klasse zuständig, in der er alle Fächer unterrichtet. So kann er als feste Bezugsperson Vertrauen aufbauen, Kontakt zu den Eltern herstellen und den Kindern eine Kontinuität bieten, die viele von ihnen außerhalb der Schule vermissen müssen.

„Das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer ist das A und O“, sagt Bürvenich. Weil dies an den E-Schulen besonders ausgeprägt ist, eskaliere Gewalt hier eher selten – trotz eines unbestrittenen Gewaltpotenzials. „Verbale Drohungen oder Beschimpfungen gibt es oft, aber dass wirklich etwas passiert, ist eher selten“, sagt auch Petra Lieder. Dass Mitte April an der Eduard-Mörike-Schule ein Schüler mit einer Druckluftpistole auf einen seiner Lehrer schoss, ist in den Augen des Schulleiters und des Kollegiums die absolute Ausnahme und einem Restrisiko geschuldet, das man nie ganz ausräumen könne.

Das bestätigen auch die zuständigen Schulaufsichtsbehörden. „Der Vorfall war nicht absehbar und somit auch nicht zu vermeiden“, sagt Monika Heller von der Bezirksregierung Köln. Sie bescheinigt Bürvenich und seinem Kollegium einen vorbildlichen Umgang mit der Situation. Sehr besonnen hatten die Lehrer einen Teil der Schüler in ihren Klassen eingeschlossen um ein Zusammentreffen mit dem bewaffneten Schüler zu verhindern, einen anderen Teil evakuiert.

Der Lehrer blieb bei dem Vorfall unverletzt, der Schüler begab sich danach freiwillig in psychiatrische Behandlung. An der Eduard-Mörike-Schule ist längst wieder der Alltag eingekehrt. „Angst, dass so etwas noch einmal passiert, habe ich nicht“, sagt Petra Lieder. Dennoch ist sie froh, dass nun der schulpsychologische Dienst regelmäßig zur Beratung der Lehrer ins Haus kommt. Was man aber noch viel dringender brauche, sei ein Schulsozialarbeiter, sagt Bürvenich. Angesichts des leeren Stadtsäckels ist aber ungewiss, ob ihm dieser Wunsch erfüllt wird.

*: Name geändert