Entfesselte Liebe und gefesseltes Leben

Arme, aber glückliche Schauspieler und Wir-Suche auf dem Kunstrasen: Das Staatstheater Braunschweig hat zum Spielzeitstart vieles gut gemeint, aber nur wenig gut gekonnt

Hinreißend verpeilter Schauspieler-Tramp sucht die Liebe: Roman Konieczny in „Lichter der Großstadt“ Foto: Björn Hickmann

Von Jens Fischer

Auf der Suche nach wahrhaftigen Begegnungen menschlicher Individuen – das sind Regisseure bewegter zwei- und dreidimensionaler Bilder immer wieder. Warum also nicht mal die Künste verbinden und ein Meisterwerk der Stummfilmära mit der Handwerkskunst des Braunschweiger Staatstheaters für die erste Schauspielpremiere der neuen Saison nacherzählen, mag sich Regisseur Christoph Diem gedacht haben. Jedenfalls nutzt er die Chance, dass europaweit erstmals die Rechte für eine Bühnenadaption von Charlie Chaplins Tragikomödie „City Lights“ (1931) vergeben wurden – und zwar an ihn.

Diem siedelt seine Inszenierung mit Bildprojektionen aus dem Herzen der Löwenstadt ebendort an und überschreibt das Arm-aber-glücklich-Szenario mit dem Alltag wohlstandsunglücklicher Bühnenkünstler. Im Zentrum aber steht der am Rand der Großstadtgesellschaft besitzlos flanierende Tramp. Reich ist er an Menschenliebe, Gutgläubigkeit und Empathievermögen. So gibt er für Chaplins Gesellschaftskritik das Gegenbild zu den egoistischen Besitzbürgern. Clownesk sind die Versuche des Tramps, anständig sein und gleichzeitig Fuß fassen zu wollen im kapitalistischen Wahn der modernen Zeiten.

„City Lights“ ist vor diesem Hintergrund ein emotionales Desillusionierungsspiel von stets frisch aufschwingenden und sofort wieder zerstörten Hoffnungen auf ein Happy End – das sich ganz illusionslos doch noch anschleicht. Nicht finanziell, aber emotional.

Als der Tramp einige Dollars zusammengebettelt hat, ermöglicht er einem erblindeten Blumenmädchen die Augenoperation. Es lernt sehen, erkennt aber im obdachlosen Schlurfi nicht ihren Wohltäter, weil es dachte, er wäre ein reicher, schöner Posterboy. Ihn berührend aber erwacht die junge Frau doch noch aus den Märchenprinzen-Träumen und öffnet sich einer wahrhaftigen Begegnung in beseelter Zuneigung. Sozialkitsch? Liebe! Ach, kann sie vom sonst so geschwätzigen Theater mit dem stillen Filmstoff mal wieder leidenschaftlich gefeiert werden?

Um Geräusche und melancholisch groovende Melancholie zu produzieren, ist die schwedische Indie-Band Next Stop Horizon in Braunschweig engagiert. Das Schauspielhaus soll in Diems Regie ein leer stehender Theaterraum einer kunstvergessenen Zeit sein. In ihm sucht der hinreißend verpeilte Tramp-Darsteller Roman Konieczny einen Schlafplatz, wird aber von einem Security-Typen verscheucht und als „Gesindel“ beleidigt: „Ich arbeite wenigstens in diesem Land des Niedergangs.“

Bevor Diems Inszenierung sich aber ernsthaft mit solchem Denken auseinandersetzt, öffnet sich die Bühne für die Stadtbummelei des Protagonisten – mit sehnsüchtigen Augen vorbei an den Luxus-Tand-Geschäften. Eine hübsch illusionistische Szene, die hineinführt ins florale Reich der Geliebten (Naima Laube). In einem Konfettiregen ist sie anhimmelungswürdig inszeniert.

Unaufgeregt stromert ein Inspizient (Luca Füchtenkordt) durchs Geschehen und sorgt für komödiantische Backstage-Atmosphäre, indem er kauzig hier eine neue Lichtstimmung, schrullig dort einen Bühnenbildumbau befehligt. Filmtheater im Theater über Theater.

Als weitere Handlungsebene synchronisiert Tobias Beyer die Mundbewegungen des Tramps und identifiziert sich zunehmend mit der Figur: zwei Außenseiter einer herzlosen Gesellschaft. Der eine vagabundiert durch die Straßen und sammelt Almosen, der andere über die Bretter, die kein Geld bedeuten. Während Beyer nun Lamento auf Lamento türmt, stürzt sich der Tramp in Jobversuche. In satirischen Kurzszenen erzählt Diem vom Malochen auf einem Spargelhof, einer Baustelle, in einer Schlachterei, einem Callcenter, im Boxring … Das Scheitern ist garantiert, allüberall. Fürs Erkennen der Liebenden gerät die Bühne schließlich ins Rotieren. In einem eher surrealen Epilog ist die Möglichkeit wahrhaftiger Begegnung angedeutet.

Live-Konzert, Live-Hör- und Live-Theaterspiel ergänzen sich prächtig, aber die Parallelführung des Elends heutigen Schauspieler- und einstigen Tramp-Seins wirkt doch eitel selbstreferenziell. Diem verzettelt sich zudem mit all seinen Theatermitteln in den Erzählebenen, findet keinen Zugang zur romantisch-anarchischen Verve Chaplins. Ein Abend der verpufften Liebesmüh.

„Reich und Himmel“: In der so betitelten zweiten Produktion zur Saisoneröffnung ist vom gefesselten Leben die Rede. Wahrhaftig wärmende Begegnungen und ein heimatliches Wir-Gefühl wider die gesellschaftliche Kälte suchen der Regisseur Markus Heinzelmann und ein sechsköpfiges Ensemble in einer mit Kunstrasen ausgeschlagenen Kleingarteninstallation als Ort des Nachdenkens und des Aufbrechens in Utopien.

Ein heimatliches Wir-Gefühl sucht das Ensemble in einem Kleingarten als Ort des Nachdenkens und Aufbrechens in Utopien

Was ja aktuell ist: Nachdem der Großstadtmensch seine Beziehung zur Natur und damit auch zur Gartenkultur hat schleifen lassen, entdeckt er beides gerade wieder als Möglichkeit für Erholung, Selbstbestimmung, gesunde Ernährung und auch als Gestaltungsraum neuer Lebensformen.

Die Schauspieler jedenfalls haben ganz viel zu diesen Themenkomplexen gelesen und plappern nun mit all den Meinungen, Analysen, Stichworten, sozialen An-, politischen Aus-, philosophischen Über- und selbstironischen Irrflügen wild durcheinander – wie am WG-Küchentisch. Nebenher wird gekocht, gesungen, gezeltet, gärtnerisch gefachsimpelt und mit Live-Videos gespielt.

Die Wirrnis der Diskurse spiegelt sich in der strukturlos wirkenden Abfolge improvisierter Szenenbilder. Ob unter dieser Voraussetzung die gewünschte Laborsituation entstehen kann, in der am perfekten Staat geforscht wird, muss stark bezweifelt werden. Sympathisch immerhin: Eine klimaneutrale Minute lang herrscht atemloses Schweigen in Finsternis auf der Bühne – und nach der Performance lädt das Ensemble in ihrem Kunstgarten zum Soupieren, Quatschen und Diskutieren ein.

Dem super aufwendigen folgt also ein super engagierter Ansatz – Braunschweigs Staatstheater hat zum Spielzeitstart vieles gut gemeint, aber nur wenig wirklich gut gekonnt.

„Lichter der Großstadt“: Sa, 19. 10., 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig/Kleines Haus. Weitere Termine bis 31. 12.

„Reich und Himmel“: Sa, 19. 10., 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig/Aquarium. Weitere Termine bis 25. 4. 2020