Professor über Brexit-Deal: „No Deal könnte noch eintreten“

Vier verschiedene Gruppen muss Premier Johnson überzeugen, um den neuen Brexit-Deal durchs Parlament zu kriegen. Sicher ist das keineswegs.

EIn Mann richtet die britische neben der EU-Fahne

Auf zum letzten Fahnenappell Foto: ap

taz: Herr Usherwood, die EU und Großbritannien haben sich auf einen neuen Brexit-Deal geeinigt. Wie wahrscheinlich ist es, dass das britische Parlament am Samstag zustimmt?

Simon Usherwood: Um eine Zustimmung für das Abkommen im Parlament zu erreichen, muss Johnson vier Gruppen von Gegnern überzeugen. Zuerst die nordirische DUP. Der Deal stellt ein Problem für sie dar, weil er Unterschiede zwischen Nordirland und dem Vereinigten Königreich macht. Ihre Sorge ist zugleich, dass es bei einer Ablehnung noch schlechter für sie enden könnte. Die zweite Gruppe sind die konservativen Euroskeptiker der European Research Group. Sie werden der Linie der DUP folgen. Selbst mit diesen beiden Gruppen verfügt die Regierung noch über keine Mehrheit.

Die dritte Gruppe sind die Ex-Tories, deren Parteimitgliedschaft entzogen wurde, weil sie gegen Johnson rebellierten. Sie wollten einen Deal unter Theresa May, die neuen Vorschläge mögen sie als weniger attraktiv beurteilen. Zuletzt braucht Johnson Rebellen aus der Labour-Opposition. Zwei oder drei Labour-Abgeordnete werden mit Sicherheit zustimmen, aber die meisten wollen nicht Johnsons Position retten. Das Beste, worauf die Regierung hoffen kann, ist eine Zustimmung mit weniger als 10 Stimmen Mehrheit.

Wenn das Parlament zustimmt, wäre dann alles geregelt?

Nein. Danach kommt noch das Gesetz zum Austrittsabkommen, das den Deal überhaupt erst in Kraft setzt. Dieses Gesetz muss ohne Änderungsanträge durchgehen, weil sonst die EU sagen wird, dass die Änderungen nicht mit dem Abkommen übereinstimmen.

Kann es noch eine Brexit-Verlängerung oder ein Misstrauensvotum gegen Johnson geben?

ist Professor für Politik an der University of Surrey mit dem Forschungsschwerpunkt britisch-europäische Beziehungen und Vize­direktor der Forschungsgruppe „UK in a Changing Europe“.

Labour will einem Deal nur zuzustimmen, wenn er einem weiteren Referendum unterzogen wird. Das würde große Ungewissheiten bergen, weil Labour keine klare Richtung für ein Referendum vorgibt. Bei einem Misstrauensantrag wiederum stellt sich die Frage, was danach passiert. Wird es eine Labour-Regierung mit Corbyn oder jemand anderem an der Spitze sein, und was wird überhaupt ihre Aufgabe sein? Soll sie ein Referendum vorbereiten, was bis zu einem Jahr dauern könnte, oder schnelle Neuwahlen? Eine klare Marschroute fehlt völlig.

Besteht die Gefahr eines ungeregelten Brexit weiter?

Ja, die besteht immer. Eine Verlängerung wäre nur eine Verzögerung des No Deal. No Deal ist immer noch das, was der EU-Austritts­antrag als letzte Möglichkeit setzt. Er könnte auch ohne Absicht eintreten, aufgrund einer Fehleinschätzung. Im Grunde sind wir jetzt da, wo wir letztes Jahr schon waren: Es gibt einen Deal auf Europa-Ebene, aber die Regierung hat keine Gewissheit, ob sie ihn durchs Parlament bringt. Eines der Hauptprobleme ist, dass Labour und die Konservativen die Diskussionen zum Brexit so gestalten wollen, dass es ihre Chancen bei Wahlen verbessert. Was fehlt, ist ein nationales Konzept, was überhaupt der Sinn des Brexit oder des EU-Verbleibs sein könnte.

Gibt es diesem Prozess irgendetwas Positives abzugewinnen?

Ja, ich glaube, all das hat die Menschen aufgeweckt und ihnen gezeigt, dass Politik einen Unterschied macht. Die Leute sind sich heute viel mehr darüber im Klaren, dass politische Entscheidungen ihr Leben beeinflussen. Das hat trotz der Frustration vieler das Fundament für zukünftige demokratische Mitbestimmung gestärkt.

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