Die stromerzeugenden Bäume kommen

Der 100-jährige Erfinder der Gaia-Hypothese, nach der die Erde selbst eine Art Lebewesen sei, hat ein neues Buch geschrieben: James Lovelock erwartet, dass Maschinenwesen die Erde kühlen und retten werden

Zwar kein Cyborg der Zukunft, aber ein Maschinenwesen: Roboterhund trifft Wolf Foto: Panthermedia/imago images

Von Annett Jensen

Dystopien haben Konjunktur. Im Zentrum stehen dabei die Überhitzung der Erde und die Vorstellung, dass sich künstliche Intelligenz verselbstständigt. James Lovelock verbindet in „Novacene – The coming Age of Hyperintelligence“ beides und macht daraus ein Überlebensprogramm für Mutter Erde. Die Menschheit wird in diesem Szenario zu einer Übergangsstufe und darf sich damit trösten, Geburtshelfer der Maschinenwesen gewesen zu sein. Dass sich die superschnellen Cyborgs ­gegen die Menschen richten, hält Lovelock für unwahrscheinlich.

James Lovelock ist ein britischer Naturwissenschaftler und inzwischen 100 Jahre alt. Bekannt geworden ist er in den 1970er Jahren durch die Gaia-Hypothese, die er zusammen mit der Mikrobiologin Lynn Margulis entwickelt hat. Demnach ist die Erde selbst eine Art Lebewesen, auch wenn sie sich nicht reproduzieren kann. Vor 3,5 Milliarden Jahren entstanden die ersten Bakterien und Einzeller und schufen in endlos langer Zeit durch Stoffwechselprozesse eine Atmosphäre, die Voraussetzung war für höhere Lebensformen. Diese Biosphäre ist immer komplexer geworden und hat so immer schneller neue Möglichkeiten für die Entwicklung von weiterem Leben geschaffen.

Mit dem Menschen kam das Bewusstsein und schließlich auch das Wissen über den Kosmos. Lovelock geht davon aus, dass das etwas Einmaliges ist: Damit sich höheres Leben entwickeln konnte, waren extrem lange Vorlaufzeiten nötig. Heute sorgt die Vegetation auf der Erde für eine Durchschnittstemperatur von 15 Grad. Weil die Sonne inzwischen etwa 20 Prozent mehr Wärme in Richtung Erde abstrahlt als zur Zeit der ersten Einzeller, wäre ein Neustart nicht mehr möglich: Ohne Atmosphäre würden auf unserem Planeten sterilisierende 50 Grad herrschen.

Vor etwa 300.000 Jahren tauchte der Mensch auf, in den vergangenen 200 Jahren hat er die biologischen, geologischen und atmosphärischen Bedingungen auf der Erde verändert. Lovelock widerspricht der Interpretation, dass die Menschheit sich dadurch an der Natur versündigt hat – das Anthropozän sei vielmehr „ein Produkt der Evolution“, hervorgebracht durch die Natur. In lebendigen Systemen gebe es immer mal Rückschläge, bevor es zu einer Höher­entwicklung kommt.

Und die stehe jetzt an: Das Anthropozän werde bald durch das neue Zeitalter Novacene abgelöst, in dem Mischwesen aus Organismus und Maschine die Menschen in ihrer herausragenden Stellung ablösen. Love­lock verweist auf selbstlernende Computer wie AlphaGO Zero, die Programme ohne menschliches Zutun in extremen Geschwindigkeiten weiterentwickeln.

„Dieses neue Leben“ werde weit über die Autonomie der heutigen künstlichen Intelligenz hinausgehen und aus Eigeninteresse bestrebt sein, Gaia zu kühlen. Gute Bedingungen für die Vegetation gehören für Lovelock ebenso dazu wie technische Lösungen. Dazu zählt er hitzereflektierende Spiegel, Chemikalien­injektionen in die Stratosphäre oder stromerzeugende Bäume. Nicht nur hier zeigt sich, dass Lovelocks Gaia-These von vielen Ökos teilweise missverstanden wurde: Ganz Ingenieur, rät er der Menschheit, die aktuellen Energieprobleme seinem Berufsstand und den Ökonomen zu überlassen. Dabei setzt er auf Atomkraft und Fusionsreaktoren.

„Unsere Ablehnung nuklearer Energie ist ein Akt von Selbst-Genozid. Nichts demonstriert klarer die Grenzen unserer Intelligenz.“ Auch die Verdammung von Plastik durch „die Grünen“ sieht er als Fehler: Das Material sei ein wichtiger Entwicklungsschritt mit vielen Vorteilen für die Menschheit gewesen, ohne die die Voraussetzungen für die Cyborgs nicht entstanden wären.

Alles hängt mit allem zusammen; Probleme isoliert anzugehen führt zu noch größeren Problemen. Insofern ist Lovelock ein Vordenker

Die neuen Wesen werden das für die Menschheit noch prägende lineare Ursache-Wirkungs-Denken aufgeben, das sich auch in unserer Sprache ausdrückt, vermutet Lovelock. Ihre Kommunikation und ihr Bewusstsein werden sich durch die extrem hohe Geschwindigkeit ihrer Informationsverarbeitung grund­legend von dem der Menschen unterscheiden.

Lovelock verweist dabei auf Wittgenstein: Wenn ein Löwe sprechen könnte, könnten wir ihn nicht verstehen – denn seine Perspektive und Wahrnehmung sind völlig andere als unsere. So ähnlich wird es sich künftig zwischen Cyborgs und Menschen verhalten, glaubt Lovelock. Mit seinen Thesen stellt sich der Autor außerhalb der gegenwärtigen Diskussion, wie und ob die Menschheit noch die Kurve kriegt. Seine Perspektive galt schon immer der ganzen Erde und der dynamischen, vielfältig vernetzten Natur.

Dieser Ansatz ist holokratisch – ein Denken, das im 20. Jahrhundert noch wenig verbreitet war und jetzt immer wichtiger wird: Alles hängt mit allem zusammen; Probleme isoliert anzugehen führt zu noch größeren Problemen. Insofern ist Lovelock ein Vordenker. Zugleich aber sind seine Fokussierung auf Technik und seine Ignoranz gegenüber sozialen Zusammenhängen und Innovationen sehr männlich geprägt und tief verhaftet im Denken des 20. Jahrhunderts.

Die Erlösung der Erde (überwiegend) von Männern geschaffenen Wesen zuzutrauen erinnert an Homunkulus und Faust. Solche Herangehensweisen haben die Menschheit in die Sackgasse geführt. So gesehen ist Lovelock ein rückwärtsgewandter Utopist.

James Lovelock: „Novacene: The Coming Age of Hyperintelligence“. Penguin Books, London 2019, 139 Seiten, 14,99 Pfund