Zweischneidiger Fortschritt

Bekenntnis zur Freiheit: „Neuen Tabus“ in Kunst und Kultur widmete sich eine Podiumsdiskussion in Hamburg

„Selbstzensur ist die schlechteste Möglichkeit“

Amelie Deuflhard, Kampnagel-Intendantin

Von Petra Schellen

Kunst soll provozieren, darf auch mal verletzten: Das ist Konsens. Uneins ist die Welt bezüglich der Frage, wie viel Provokation zulässig ist in einer Gesellschaft, in der jede Interessengruppe so ein Geschrei veranstalten kann, dass Museumsleute erschreckt Bilder abhängen. Oder wie Hamburgs Deichtorhallen: Die sagten im vergangenen Jahr nach #metoo-Vorwürfen eine ganze Ausstellung des Fotografen Michael Wolf ab. In der Kirche St. Ansgar in Hamburg wurde im selben Jahr das Foto eines nackten Kleinkindes auf Marias Schoß gar nicht erst gezeigt: Jahre früher hatte in dieser katholischen Kirche – auch „Kleiner Michel“genannt – ein Pastor gewirkt, der andernorts des Kindesmissbrauchs beschuldigt war. Da erschien den Veranstaltern ein derartiges Foto als unangebracht.

„Eigentlich ist es erfreulich, dass sich immer mehr Menschen zu Wort melden“: Das sagte am Dienstag in Hamburg Amelie Deuflhard, Chefin der dortigen Experimentierbühne Kampnagel. „Dass sich etwa Schwarze dagegen wehren, dass über sie gesprochen und gearbeitet wird, statt mit ihnen.“ Das dürfe aber nicht dazu führen, dass nur noch Betroffene über ihre Anliegen sprechen dürften. Und auch nicht dazu, dass Ausstellungs- oder Theatermacher*innen solche Arbeiten mieden, die für Proteste sorgen könnten. „Selbstzensur“, so Deuflhard, „ist die schlechteste Möglichkeit.“

„Die neuen Tabus einer sich wandelnden Gesellschaft“, so war die Diskussionsrunde überschrieben, bei der Deuflhard auf Kurator*innen aus Hamburg, Hannover und Graz traf, veranstaltet vom Hamburger Kunstverein und der örtlichen Katholischen Akademie. So begreiflich alle solche Identitätspolitik auch sei: „Kunst kann die soziale Frage nicht lösen, sondern nur Debatten anstoßen“, sagte Christina Végh, Chefin der Kestnergesellschaft in Hannover. Debatten, die aus Sicht von Hamburgs Kunstvereins­chefin Bettina Steinbrügge oft keine demokratische Streitkultur mehr sind, sondern wechselseitiges Draufhauen. Das aber sei eine Verengung des Diskurses und das Gegenteil dessen, was eine plurale Gesellschaft eigentlich an Chancen biete. Zu schweigen von rechtspopulistischen Parteien wie der FPÖ, die in Österreich „ordentliche“ Kunst fördern wolle und keine kritischen Projekte, so Johannes Rauschenberger vom katholischen Kulturzentrum Kultuum in Graz.

Da habe sie es ja noch gut, fand Deufl­hard: „Hier wird man maximal angezeigt“, sagte sie in Anspielung auf ihr Projekt „Eco Favela Lampedusa 2015“, gegen das die AfD juristisch vorgegangen war. Aber: „Einknicken ist für mich keine Option“, so Deufl­hard. Da gab es keinen WIderspruch von den anderen Diskutant*innen.