„Das Idyll als Fallhöhe zur Beleuchtung der dunklen Seiten“

Wie konnte aus Norwegen das Krimiland werden, das es heute ist? Ein Gespräch mit Margit Walsø, die den Gastlandauftritt Norwegens bei der diesjährigen Buchmesse organisiert

Foto: Eivind Røhne

Margit Walsø

ist Direktorin des Instituts Norwegian Literature Abroad (Norla). Sie ist zudem Autorin historisch-biografischer Frauen­romane und war 18 Jahre lang für das Verlagshaus Det Norske Samlaget tätig.

taz: Was ist der Unterschied zwischen einem Schwedenkrimi und einem Krimi aus Norwegen?

Margit Walsø: Wenn man zurück in die 1970er Jahre geht, stößt man auf das schwedische Autorenduo Maj Sjöwall und Per Wahlöö, die mit ihren Krimis den Grund für alles Weitere gelegt haben: Spannung, also Unterhaltung und Gesellschaftskritik zusammenzuführen. Das strahlt bis heute auf die Krimi-Literaturen Schwedens, auch Dänemarks und eben Norwegens aus. Was anders ist: Unsere Krimis spielen in kleinen, abgeschiedenen Gemeinschaften, in denen plötzlich etwas Schreckliches passiert. Gleichzeitig schaut man von hier aus auf das große Ganze, debattiert so aktuelle gesellschaftlichen Fragen. Dazu gesellen sich Ermittler, die sehr komplex und genauso Helden wie Antihelden sind – das ist meiner Meinung nach typisch norwegisch.

Der Krimi lebt vom Klischee?

Norwegen ist gewiss nicht der friedliche Flecken, wo sich alle gut verstehen und alle gleich sind. Aber unser Krimi nutzt diese Idee eines Idylls als Fallhöhe, um von hier aus die dunklen Seiten der Gesellschaft zu beleuchten. Selbstverständlich ist die Kriminalitätsrate in den Büchern höher als im wirklichen Leben.

Gibt es sonst etwas Spezielles?

Wir haben ein besonders Phänomen: den„Oster-Krimi“. Die Buchverlage bringen im ersten Quartal des Jahres alle ihre neuen Krimis heraus. Wenn die Leute nach dem Ende des Winters zu Ostern in ihre Ferienhäuser fahren, raus aufs Land, fragt man sich untereinander: „Welchen Krimi wirst du lesen? Hast du einen Tipp?“

Wie kam es dazu?

1925 gründete sich das norwegische Verlagshaus Gyldendal, das dem dänischen Verlag gleichen Namens die Rechte aller norwegischen Autoren abkaufte. Denn bis dahin hatte Norwegen keine Verlage, alles erschien in Dänemark, eine Folge der langjährigen politischen Union zwischen Dänemark und Norwegen. Einer der damaligen Verleger erfand den Kriminalroman zu Ostern, um von Anfang an die breite Leserschicht zu erreichen. Das funktioniert bis heute und niemand denkt mehr daran, dass der Oster-Krimi, der uns so in Fleisch und Blut übergegangen ist, einem nüchternen Marketingkonzept entsprang.

Wenn ich es recht erinnere, machte Anne Holt ab Mitte der 1990er Jahre Norwegen bei uns als Krimiland bekannt.

Sie war in der Tat eine der ersten. Sie arbeitete als Juristin zunächst für die Polizei, dann als Anwältin und nutzte so ihr Wissen, um den kritischen Blick auf die Gesellschaft fachlich zu unterfüttern. Was auch wegweisend war: Sie hat eine Ermittlerin eingeführt – das war absolut neu.

Wie hält man das Interesse am Markt wach?

Es gibt eine enge Zusammenarbeit zwischen den Verlagen, dem Buchhandel, auch den Medien. Doch auch wenn es viele Autoren und auch neue Talente gibt, die Krimis schreiben, ist es nicht so einfach, sie auch auf dem Markt durchzusetzen. Lange, das heißt bis weit in die 1990er Jahre, konnten wir in Norwegen von den Bücherclubs profitieren: Fast jeder war dort Mitglied, und wenn ein Club einen Krimiautor in sein Programm aufnahm, war die Sache klar. Später verloren die Clubs ihre Vormachtstellung, und wir mussten lernen, dass sich jedes Buch, also auch jeder Krimi einzeln auf dem Markt behaupten muss.

Haben Sie eine Erklärung, warum wir Deutschen Ihre Krimis so schätzen?

Es gab in Deutschland schon immer eine große Offenheit für Literatur aus Skandinavien, von daher kann sich der Krimi auf eine solide Tradition stützen. Ansonsten: Unsere Krimis sind ziemlich gut. Denn unsere Krimiautoren profitieren genauso von der staatlichen Literaturförderung wie die Autoren der sogenannten hohen Literatur: Von jedem neuen Buch werden in der Regel 1.000 Exemplare gekauft und die an die Bibliotheken weitergegeben. Also ist das Buch finanziert und man kann sich vorab auf die Qualität des Textes konzentrieren. Außerdem: Wir von Norla können die Übersetzungen finanziell fördern und das zahlt sich für die deutschen Leser und Leserinnen aus.

Schauen wir in die andere Richtung: Liest man in Norwegen deutsche Krimis?

Natürlich nicht in dem Umfang, wie man in Deutschland norwegische Krimis liest – aber es gibt jemanden, der bei uns wirklich erfolgreich ist: Ferdinand von Schirach.

Interview: Frank Keil