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Eiertanz bei Labour

Wie soll sich die größte Oppositionspartei im nächsten Wahlkampf zum Brexit positionieren? Am Besten gar nicht, fordert Jeremy Corbyn. Der Labour-Chef setzte sich auf dem Parteitag mit dem Antrag durch, die Frage erst nach den Wahlen zu klären

„Brexit ist ein nationalistsches Unterfangen, das Rassismus ansteigen ließ“

Urte Macikere, Delegierte

Aus dem Seebad Brighton Daniel Zylbersztajn

In der Mittagspause wurden vor dem Kongresszentrum im südenglischen Brighton rote Schilder verteilt: „Labour Can Stop Brexit“. Zahlreiche Labour-Delegierte nahmen diese enthusiastisch mit in den Konferenzsaal. Die tatsächliche „Stop Brexit“-Verkörperung, Dauerdemonstrant Steve Bray, der schon vor einer Woche bei den Liberaldemokraten in Bournemouth vor deren Konferenzzentrum stand, ließ derweil vor einem Infostand mit EU-Fahne Selfies mit sich machen, neben Leuten mit roten T-Shirts und der aktuellen linken Pro-EU-Parole: „Reform, Remain, Revolt.“

Dieser Montagnachmittag war entscheidend bei dem Jahresparteitag der größten Oppositionspartei. Nicht etwa wegen der Ankündigung einer Viertage-Arbeitswoche und Reparationen für klimawandelgeschädigte Länder. Das Entscheidende war die Auswahl zwischen Composite 13 und Composite 14 – zwei gegensätzliche Anträge zur künftigen Brexitpolitik.

Beide Anträge fordern ein zweites Referendum, bei dem die Briten zwischen einem „glaubwürdigen Deal“ zum Brexit und dem EU-Verbleib (Remain) wählen sollen. Doch während Composite 13, mitgetragen von der Irland-Gruppe der Partei, eine eindeutige Stellungnahme zugunsten des EU-Verbleibs forderte, lässt Composite 14 nach Vorschlag von Parteiführer Jeremy Corbyn offen, wie sich Labour bei einer Wahl zwischen einem von einer Corbyn-Regierung auszuhandelnden Brexitdeal samt Zollunion und dem kompletten Verbleib in der EU positionieren soll. Das soll die Partei erst nach einem Wahlsieg entscheiden. Mit anderen Worten: Labour will in den Wahlkampf ziehen, ohne sich festzulegen, ob es für oder gegen den Brexit ist.

Labour muss gewinnen

Die Kampagne „Peoples Vote“, die auch für ein zweites EU-Referendum wirbt, hält das für fatal: Das werde Labour den Sieg kosten, weil proeuropäische Wähler zu Grünen und Liberaldemokraten abwandern. Um Großbritannien zu verändern, müsste Labour die nächsten Wahlen aber gewinnen. Die Ausrichtung zum Brexit sei zentral.

Dieser Streit spaltet. Labours Nummer zwei, Tom Watson, sagte am Sonntag, dass seiner Meinung nach Labour eine Remain-Partei sei – und positionierte sich damit gegen Corbyn. Auch Gordon Mckay von Unison, Großbritanniens größter Gewerkschaft, die unter anderem viele Angestellte im Gesundheitswesen vertritt, sprach sich für eine starke Remain-Position aus. Linke Gewerkschaften hingegen stellten sich hinter Corbyn.

Die Delegierte Suzan King aus Glasgow behauptete, dass nur eine klare Remain-Haltung den Verlust von Rechten, Arbeit, Frieden und Chancen für Jüngere vermeide. Urte Macikere aus Südlondon stellte sich hinter Composite 13, ihr Argument: „Brexit ist ein nationalistisches Unterfangen, das rechtsextremen Rassismus ansteigen ließ. Wir brauchen Corbyn, um die Freizügigkeit und Integration der europäischen Arbeiterklasse zu verteidigen und die imperialistische EU mit sozialistischen Reformen zu führen – nicht Sozialismus in einem Land, sondern internationalen Sozialismus.“ Auch Schattenaußenministerin Emily Thornberry und Schattenbrexitminister Keir Starmer stellten sich hinter die Remain-Festlegung.

Chaos bei der Abstimmung

Es nützte nichts. Nach der Abstimmung per Handzeichen stellte Sitzungsleiterin Wendy Nichols fest, Composite 13 sei durchgefallen. Oder vielleicht auch nicht? Denn erst tuschelte sie mit der Labour-Generalsekretärin Jenny Formby, die neben ihr hörbar sagte: „Es ist verloren … es ist klar verloren.“ Worauf Nichols verkündete: „Entschuldigt, ich dachte es war in eine Richtung, aber Jenny dachte was anderes. Der Antrag hat verloren.“ Nach weiteren Beschwerden korrigierte sie sich: „Der Antrag ist angenommen.“ Dann wurde sie von Formby zurechtgewiesen und kehrte zu der Feststellung zurück, Composite 13 habe verloren. Anhänger von Composite 14 begannen „Oooh Jeremy Corbyn“ zu singen. Ihr Antrag wurde angenommen.

Am Abend lagen die Reaktionen der Delegierten zwischen Euphorie und Enttäuschung. Hoffmann Wattua aus Sheffield-Hallam, wo eventuell eine Nachwahl zum Unterhaus ansteht, gibt sich zufrieden. „Man muss die Parteiführung stärken und mit dieser Stellung kann ich Menschen in Sheffield, die für den Brexit stimmten, zur Wahl Labours überreden.“ Deeba Sayed aus London, die Vertreterin sozialistischer Anwälte, hätte eine klare Remain-Stellung bevorzugt und erklärte, sie könne vor der Presse nicht sagen, was sie denke.

Londons Bürgermeister Sadiq Khan hält die Abstimmung sogar für illegitim, da die Entscheidung nicht der Mehrheit aller Labour-Mitglieder entspreche. Diese wollen den Brexit stoppen. Nach Meinungsumfragen liegt der Anteil der Labour-Mitglieder, die in einem Referendum für den EU-Verbleib stimmen würden, bei 88 Prozent.

Wer nach Hintergründen für den Eiertanz sucht, bekam sie auf Nebenveranstaltungen erklärt. Chris Peace, Kandidatin für Nordost-Derbyshire, wo vor drei Jahren 62,8 Prozent für den Brexit stimmten, berichtete von Arbeitergegenden, die seit Jahrzehnten vergessen wurden.

John Trickett, Abgeordneter aus Hemsworth in Yorkshire, betonte: „Labour half ihnen einst mit Sozialwohnungen, dem nationalen Gesundheitssystem, Schulen für alle. Aber als Labour diese Werte vernachlässigte, vernachlässigten sie auch diese Gemeinschaften. Im Lichte von Zerstörung durch Drogen, Suizid und industriellen Zerfall war die Floskel ,Take Back Control' der Leave-Kampagne unwiderstehlich.“

Lisa Nandy aus Wigan klang ähnlich. „Als Cameron ein Referendum ausrief, traf ich mich mit über 100 Gewerkschaftsvertreter*Innen. Ich war fast platt von ihrer starken Brexitposition. Hier ist viele Jahre lang nicht miteinander gesprochen worden.“ Ihr Vorschlag: offene Gespräche und Kompromisse und keine Polarisierung. Das spricht für Corbyns Mittelweg und Composite 14.