Literatur aus Norwegen: Verdammt sympathische Spleens

Der norwegische Schriftsteller Dag Solstad hat ein Herz für tragikomische Sonderlinge. Das dürfte auch Fans von Sven Regener gefallen.

Schwarz-Weiß-Porträt von Mann mit weißem mittellangem Haar

In seiner Heimat schon lange berühmt: Dag Solstad Foto: Tom Sandberg

In die Liste der großen ersten Sätze der Weltliteratur gehört dieser Romananfang unbedingt. Dag Solstad stellt seinen tragischen Helden T. ­Singer wie folgt vor: „Singer litt an einer speziellen Form von Schamgefühl, das ihn keineswegs täglich plagte, ihn jedoch gelegentlich heimsuchte, es war eine Erinnerung an ein wie auch immer geartetes Missverständnis, die ihn plötzlich innehalten ließ, völlig erstarrt, mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck, den er sogleich verbarg, indem er beide Hände vor das Gesicht führte, während ihm ein lautes ‚Nein, nein‘ entfuhr.“

Es sind Flashbacks, mit denen die Hauptfigur zu kämpfen hat, und wie diese aussehen, davon kann man sich kurz darauf ein sehr genaues Bild machen. Aus der Erinnerung an einen Irrtum – der Verwechslung einer Person in einem Konzertsaal – erwächst in Singers Kopf ein veritabler Paranoia-Film; die Gedankenspiralen der Hauptfigur erstrecken sich über ganze neun Seiten. Und noch während man ihnen dabei zusieht, wie sie ihre Kreise ziehen, wird einem dieser Singer verdammt sympathisch.

Was der norwegische Schriftsteller Dag Solstad, in seiner Heimat seit Jahrzehnten ein berühmter Autor, da mit spürbarer Freude ausbreitet, das ist großes erzählerisches Kino. Er schafft mit Singer einen Kauz und Sonderling, der vielen anderen verschrobenen Gestalten der Literaturgeschichte in nichts nachsteht. Singer ist Studien­abbrecher, Möchtegernschriftsteller und hat eine Ausbildung zum Bibliothekar absolviert. Mit 34 zieht er in die Kleinstadt ­Notodden und tritt dort eine Stelle in der Bibliothek an.

Das Zwischenfazit seines Lebens fällt so mittel aus: „Ohne Trauer oder Enttäuschung darüber, dass er der war, der er war, aber auch nicht mit großer Freude darüber, dass er der war, der er war, wollte er ein neues Leben beginnen.“

Dag Solstad: „T. Singer“. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger, Dörlemann Verlag, Zürich 2019, 288 Seiten, 22 Euro

Dag Solstad: „Elfter Roman, achtzehntes Buch“. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger, Dörlemann Verlag, Zürich 2019, 208 Seiten, 20 Euro

Die Scheidung wird vom Tod überholt

Man begreift recht schnell, dass all die Hoffnungen ­Singers, dieses Helden, dem nur ein Buchstabe als Vorname zugestanden wird, zum Scheitern verurteilt sind. Immer mal wieder flackert kurz so etwas wie Leben, Liebe und Leidenschaft auf – etwa als Singer mit Merete zusammenkommt, zu ihr zieht und sie heiratet. Kurz darauf aber versinkt er wieder in der Mittelmäßigkeit seines Daseins. So ist die Scheidung bereits beschlossene Sache, als Merete bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt. Zurück bleiben Singer und seine Stieftochter, um die er sich fortan kümmert.

Tragikomische (männliche) Alltagshelden zu zeichnen, ist eine Spezialität Dag Solstads. Manchmal fühlt man sich in einen Aki-Kaurismäki-Film versetzt: Das Leben nimmt seinen Lauf, niemand versteht den anderen, und dann, wenn man schon gar nicht mehr damit rechnet, geschieht doch etwas Unerwartetes, mit ein bisschen Glück sogar etwas, das einem eine Vorratsration Lebensmut gratis mit auf den Weg gibt.

Er breitet die Gedanken von Leuten aus, die man sonst nur kurz im Treppenhaus trifft

Bjørn Hansen, Hauptfigur in Solstads Roman „Elfter Roman, achtzehntes Buch“, ist noch so eine typische Solstad-Figur – auch er hat seinen eigenen kleinen Spleen, und auch sein Leben plätschert, unterbrochen von einigen zarten Hoffnungssprengseln, vor sich hin – bei ihm aber nehmen die Dinge eine noch schrägere Wendung.

Solstad breitet die Gedankenwelten von Leuten aus, die es im wirklichen Leben zuhauf gibt, denen man vielleicht mal im Treppenhaus begegnet, sich denkt: ein bisschen komisch ist der schon, ehe man weitergeht und ihn schon wieder vergessen hat – oder sich fragt, ob sein Gegenüber gerade das Gleiche von einem gedacht hat.

Kommunistische Propaganda

Von Dag Solstad sind bislang nur fünf Bücher ins Deutsche übersetzt worden. Der Züricher Dörlemann Verlag betreut sein Werk, „T. Singer“ (original von 1999) erschien bereits im Frühjahr erstmals auf Deutsch, nun folgt zudem die Wiederauflage von „Elfter Roman, achtzehntes Buch“ (1992) und „Scham und Würde“ (1994) passend zum Auftritt Norwegens als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse.

Solstad, der 1941 in Sande­fjord nahe Oslo geboren wurde und heute in der norwegischen Hauptstadt lebt, hat eine interessante Entwicklung hinter sich: In den Siebzigern schrieb er als Mitglied der maoistisch ausgerichteten Kommunistischen Arbeiterpartei („Arbeidernes kommunistparti“) politische Bücher, die wohl eher in die Kategorie Propagandaliteratur fallen. Davon wendete sich Solstad, der einige Jahre in Berlin lebte, später vollständig ab.

In seinen Büchern aus den neunziger Jahren erzählt er minutiös individuelle Lebensläufe, zeichnet seine Figuren mit viel Detailfreude, Leidenschaft und Interesse an ihnen. Nach „T. Singer“, das er selbst für sehr gelungen hielt, wollte er eigentlich aufhören zu schreiben, entschied sich dann aber doch weiterzumachen und legte experimentellere Werke wie zuletzt „Das unlösbare epische Element der Telemark in der Zeit von 1591 bis 1896“ (2013) vor, das von der norwegischen Literaturkritik gemischt aufgenommen wurde.

Denkmal für die Scheiternden

Erzählerisch und stilistisch ist Solstad vor allem in „T. ­Singer“ voll auf der Höhe seiner Kunst. Die Nebensatzstafetten, die er da zuweilen hinlegt, gelingen den wenigsten so elegant; in Deutschland vielleicht jemandem wie Sven Regener. Seine Übersetzerin Ina Kronenberger überträgt diese Satzkonstrukte kongenial ins Deutsche.

Auch das Spiel mit den Erzähl­ebenen ist so bemerkenswert wie gekonnt, Solstad führt eine Erzählinstanz ein, die eigentlich mehr ist als nur ein auktorialer Erzähler, die noch zwischen jenem und dem Autor anzusiedeln ist („Es muss in Singers Leben eine gewaltige Veränderung gewesen sein!“, kommentiert der Erzähler, oder: „Man sollte ihn mal in der Küche in Aktion erleben, wenn er sich in einer einfachen rustikalen Schürze über den Backofen beugte, die Tür aufmachte und das leckerste Brot herausholte, das perfekt aufgegangen war.“) Auch wie der Autor mit Zeitdehnung und Zeitraffung spielt, ist toll, er kann ein Geschehen von wenigen Sekunden über viele Seiten strecken und überspringt dann ein paar ganze Jahre in einem kurzen Absatz.

Den Büchern von Solstad wird manchmal vorgeworfen, in ihnen geschehe zu wenig, die Figuren seien passiv und resignativ gezeichnet. Bei T. Singer aber sind die scheinbare Ereignislosigkeit und Redundanz des Geschehens Konzept. Natürlich geht es Solstad auch darum zu zeigen, wie klein, unbedeutend und kontingent das Leben eines Einzelnen ist. Zugleich aber setzt er eben auch all den ganz normal Scheiternden, die da draußen herumlaufen, ein liebevolles literarisches Denkmal.

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