Das Verschwinden der Käfer

In der Lüneburger Heide gibt es heute viel weniger Käferarten als noch vor 25 Jahren – obwohl sie unter Naturschutz steht. Das haben Wissenschaftler der Leuphana-Uni in Lüneburg herausgefunden. Die Landschaft, in der sie forschen, spielte für die Nazis eine wichtige Rolle

Manche dieser Käferarten werden vielleicht schon jetzt in der Lüneburger Heide vermisst Foto: privat

Von Helmut Höge

Vor zwei Jahren sorgte eine Veröffentlichung des Krefelder Entomologischen Vereins weltweit für Aufsehen: Die Insektenforscher hatten 27 Jahre lang mit sogenannten Malaisefallen an 63 Standorten in drei Bundesländern Fluginsekten gefangen und gewogen. Das lieferte erstmalig messbare Daten über das Insektensterben: Die Anzahl der Fluginsekten war danach um über 75 Prozent zurückgegangen.

Klima- und Biotopveränderungen konnten als Hauptverursacher ausgeschlossen werden, wie der Naturschutzbund (Nabu) damals schrieb, der gern Daten über Ackergifte gehabt hätte. „Sie sind da, aber die Landwirte geben sie nicht raus, sie sind privat“, erklärten die Krefelder Käferforscher auf taz-Nachfrage. Man habe auch auf den Ackerflächen einen Insektenrückgang festgestellt. Außerdem sei die Zahl der Insektenarten zurückgegangen – das habe man mithilfe von Messgeräten festgestellt.

Diese Woche nun veröffentlichte die Leuphana-Universität Lüneburg eine Meldung über eine weitere Untersuchung des „Insektensterbens“: Die Wissenschaftler hatten nicht nur die Biomasse der eingefangenen Tiere gewichtsmäßig erfasst, sondern auch die Arten bestimmt. Ein aufwendiges, aber notwendiges Verfahren, denn „nur wenn wir wissen, welche Arten verschwinden, können wir sinnvolle Naturschutzmaßnahmen planen,“ meinte der Ökologe Thorsten Aßmann.

Seine Arbeitsgruppe hatte 25 Jahre lang mit Bodenfallen in einem Wald des Naturschutzgebietes Lüneburger Heide den Rückgang der Artenvielfalt bei Käfern ermittelt, wobei sie sich auf Laufkäfer konzentrierten, die nahezu weltweit verbreitet sind – mit etwa 40.000 Arten. Fast ein Dutzend Arten lebt auch in der Lüneburger Heide, man unterschied sie vor allem an ihren Penisformen, heute mit gentechnischen Verfahren.

Über diese Arten hatte bereits 1961 der in Uelzen lebende und auf Laufkäfer spezialisierte Coleopterologe Carl L. Blumenthal in der Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft österreichischer Entomologen eine Forschungsarbeit veröffentlicht, die ebenfalls auf eine 25 Jahre lange Sammlertätigkeit basierte. Schon damals hatte er die Vermutung geäußert, dass sich der Lebensraum einiger Laufkäfer in der Lüneburger Heide wegen der Erwärmung in der Nacheiszeit verkleinert habe. Vor allem im warmen Sommer 1959 konnte er bei den Laufkäfer-Populationen beobachten, dass „die zunehmende Trockenheit das Vorkommen inselartig begrenzte. Das Gegenbeispiel war das sehr nasse Jahr 1960, als an bisher ungewohnten Lokalitäten Arten in Fallen gefangen wurden, die sonst dort nicht vorkamen.“

Die Forscher der Universität Lüneburg machten nun ebenfalls den „Klimawandel“, aber auch den Einsatz von Pestiziden dafür verantwortlich, dass die Artenvielfalt bei den von ihnen gesammelten Laufkäfern seit 1994 um fast ein Drittel zurückgegangen ist: „Gerade in einem Naturschutzgebiet hätten wir damit nicht gerechnet,“ sagte Thorsten Aßmann.

Wo kommen die Pestizide im Naturschutzgebiet her? 1973 hat der Tierfilmer Horst Stern in seinem Buch „Tiere und Landschaften“ dargestellt, wie die Lüneburger Heide entstand: Der Wald, der dort nach der Eiszeit wieder aufwuchs, wurde von den Bauern und ihrem Vieh langsam zerstört, woraufhin sich auf den größer werdenden Lichtungen Heidekraut, das keinen Schatten verträgt, ansiedelte.

Die Besenheide, wie sie heißt, wurde von einer besonders genügsamen Schafrasse, den Heidschnucken, abgeweidet. Die Wacholderbüsche rühren sie nicht an, das machen die Schäfer, damit die Büsche nicht überhand nehmen. Wenn die Schafe die Heidepflanzen nicht kurz hielten, würde sie nach 25 Jahren verholzen und absterben: „Die Heide würgt nämlich ihre eigene Art ab, denn das Polster, das sie bildet, wird so dick, dass die Heidesamen keinen nährenden Boden finden können“, schrieb Stern.

Auch die Bauern helfen der Heide, indem sie die Wurzelpolster mit einer Hacke abschlagen. Diese „Plaggen“ werden im Stall als Einstreu verwendet, der nach einem Jahr als wertvoller Mist auf die Felder kommt. „Die geplaggten Stellen werden sofort wieder von der Heide erobert.“

Ein Quadratmeter blühende Heide bringt drei Millionen Samen hervor. Dazu braucht es jedoch Blütenbestäuber, allen voran die Honigbiene, der wiederum die Heidschnucken helfen, indem sie beim Fressen der Heide alle Spinnennetze zerstören, in denen Bienenfeinde lauern könnten.

„Mit dem Kunstdünger wurde dieses kunstvolle Zusammenspiel aber beendet“, meinte der Tiefilmer, woraufhin die Lüneburger Heide immer mehr zusammengeschmolzen sei. Den letzten Rest – 200 Quadratkilometer – stellte man 1906 als Naturpark unter Schutz. Und um diesen herum wird seitdem auf den Äckern mit immer mehr Pestiziden gearbeitet, wobei Wind und Wetter die Gifte in das Naturschutzgebiet tragen.

Aßmann warnt vor einer weiteren Abnahme der Diversität: „Artenvielfalt ist eine Versicherung für die Zukunft. Eine nachhaltige Land- und Forstwirtschaft etwa wird ohne Insekten wie Laufkäfer nicht möglich sein. Sie sind wesentlich für funktionierende Ökologiesysteme in unseren Breiten, denn sie ernähren sich unter anderem von Schädlingen wie Eichenprozessionsspinner und Kartoffelkäfer.“

Von den Nazis geschätzt: Der Heimatdichter Hermann Löns steht als Denkmal in der nach ihm benannten Straße in Walsrode Foto: Philipp Schulze/dpa

Solange in Niedersachsen noch die kapitalistischen Ökonomiesysteme „funktionieren“, wird sich die Artenvielfalt bei den Insekten und in Abhängigkeit davon auch die bei den Vögeln weiter verringern. Die Lüneburger Ökologen überprüften alle zwei Wochen den Artenbestand in einem alten nachhaltig bewirtschafteten Waldgebiet der Lüneburger Heide, dem Hofgehölz Möhr. Dort befindet sich die Alfred-Toepfer-Akademie für Naturschutz. Der 1993 gestorbene Alfred Toep­fer war der größte Getreidehändler Europas und sammelte schöne Höfe wie andere Leute Briefmarken, daneben gründete er eine gemeinnützige Stiftung nach der anderen.

Die meisten dienten jedoch nur zur Subventionierung völkischer Aktivitäten, dafür stellte der ehemalige Freikorpskämpfer gegen die Kommunisten alte SS- und SD-Kameraden ein, mit Vorliebe Kriegsverbrecher. Ähnlich wie der Gründer des Bundesnachrichtendienstes, Reinhard Gehlen, dessen Geheimdienstkollege Alfred Toepfer im Krieg war.

Die FAZ fragte sich: „Gutes Geld, dunkle Absichten?“ und sprach von einem neuen „Historikerstreit“ – angesichts einer verharmlosenden Toepfer­biografie des deutschen Staatshistorikers Hans Mommsen und einer scharfen Toepferkritik des jüdischen Politikwissenschaftlers Michael Pinto-Duschinsky: „The Prize Lies of a Nazi Tycoon“.

Sage niemand, das hat nichts mit dem Artensterben zu tun! Ein guter Freund von Toepfer war der Käferjäger und -sammler Ernst Jünger. Und zum einen befindet sich die Käferforschung in Möhr im Gravitationszen­trum der Naziideologie: der Heide des Naturschützers und Heimatdichters Hermann Löns – dort, wo sein Erfolgsroman „Wehrwolf“ weste. Zum anderen war die ökologisch-nachhaltige Schädlingsbekämpfung bei den Nazis quasi Chefsache: Der Biologe Ernst May widmete sich 1942 als Leiter des „Entomologischen Instituts der Waffen-SS“ am KZ Dachau Fragen einer solchen Insektenbekämpfung, an der „der Reichsführer SS ein ganz besonderes Interesse hat,“ wie er in einem Brief an einen SS-Obersturmführer schrieb.

May wollte laut der Biologie-Historikerin Ute Deichmann untersuchen, ob sich Fliegen durch Infektion mit dem Pilz Empusa „naturgemäß-biologisch“ bekämpfen ließen. Himmler, der, so Deichmann, „alternativen Methoden zur Schädlingsbekämpfung gegenüber sehr aufgeschlossen“ gewesen sei, habe anfragen lassen, „ob nicht auch Schlupfwespen gegen Fliegen gezüchtet werden könnten“.