Geschichte der Umweltbewegung Berlin: Plötzlich kehrte die Fauna zurück

Vegetarismus, Reformgedanken, Biotope auf Brachen: Eine Ausstellung in Berlin dokumentiert die Geschichte der Umweltbewegung.

Ein Ausstellungsraum, darin unter anderem Skulpturen aus Mistgabeln und Ästen

Blick in die Ausstellung „Archäologien der Nachhaltigkeit“ in der ngbk in Berlin Foto: Frank Sperling

Licht Luft Scheiße“ heißt die Ausstellung, die seit diesem Sommer an verschiedenen Orten in Berlin verschiedene Aspekte von Ökologie beleuchtet. In der neuen Gesellschaft für bildende Kunst findet sich ein Teil der Ausstellung – mit dem etwas gesetzteren Titel: „Archäologien der Nachhaltigkeit“. Die Kurator*innen Sandra Bartoli, Silvan Linden und Florian Wüst haben dort Exponate zur Geschichte der modernen Umweltbewegung gesammelt.

Besser gesagt: zu den Geschichten. Denn schon früh entwickelten sich verschiedene Strömungen – teilweise parallel, teilweise entgegengesetzt. Es ist deshalb wirklich archäologische Arbeit, die die Ausstellung leistet. Schicht um Schicht legt sie Paradigmenwechsel frei, bleibt dabei fragmentarisch. Immer im Fokus der Debatten um Ökologie: Berlin.

„Tatsächlich entstand die moderne Umweltbewegung in der Stadt, nicht auf dem Land“, erklärt Kuratorin Bartoli, „und zwar als Reaktion auf die Industrialisierung“. Die zunehmende Luft- und Wasserverschmutzung, dazu der beengte Wohnraum waren Nährboden für die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Mensch und Umwelt. Die Lebensreformbewegung rief das Motto „zurück zur Natur“ aus und lebte es auch.

Die Früchte der Selbstversorger

1893 gründete sich nördlich von Berlin die vegetarische Obstbau-Kolonie Eden: eine genossenschaftlich organisierte Selbst­versorger*innen-Kommune. Die Früchte dieser Siedlungsbewegung sind in der Ausstellung auf Fotos und in Dokumenten zu sehen. Aus dem Selbstversuch wurde eine umfassende Sozialutopie: Neben den Gärten entstanden auch eine eigene Bau- und Kreditgesellschaft, ein Kurhaus, eine Schule und weitere Gemeinschaftsgebäude.

Die Folgen des Ersten Weltkriegs, der Mangel an Wohnraum und Nahrung brachten weitere Siedlungsideen hervor, die jedoch weniger utopisch waren. Garten- und Landschaftsarchitekt Leberecht Migge beispielsweise forschte zur viehlosen Landwirtschaft und Selbstversorgung. Kuratorin Bartoli findet sein Denken spannend: „Wir fragen uns heute: Wie viel Ökologie können wir uns leisten? Damals war es umgekehrt. Migge fragte sich: Wie kann Ökologie ertragreich sein?“

So sprach er sich für den Vegetarismus aus, nicht etwa wegen der Tiere, sondern aus rein sozioökonomischen Gründen: Es sei schlicht effizienter, alle vegetarisch zu ernähren. Migge war ökologischer Funktionalist, wollte die Menschen aus der Abhängigkeit von der Lohnarbeit und der Enge der Stadt befreien. Seinem Lebenswerk widmet die Ausstellung viel Platz, unter anderem um eine Nachbildung seiner Zeltlaube – ein minimalistisches Wohnkonzept, ähnlich den heute beliebten Tiny Houses – zu zeigen.

Die Natur in der Stadt

Bis 1945 war es in der Umweltbewegung üblich, Berlin als Negativschablone zu nutzen. Die Stadt, ein menschenfeindlicher Lebensraum, dem es zu entfliehen galt. Das sollte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ändern: Berlin, insbesondere Westberlin, wurde zu einem wichtigen Zentrum der Naturforschung und auch des Umweltschutzes.

Denn durch Krieg und Mauerbau waren die Berliner*innen gezwungen, sich mit der Stadt auseinanderzusetzen, sie verlassen konnten sie nicht. „Man nannte das den umgekehrten Robinson-Crusoe-Effekt“, beschreibt Bartoli, „So wie der gestrandete Crusoe sich darum bemühte, jedes bisschen Zivilisation zu erhalten und davon ausgehend neue Strukturen aufzubauen, so war man in Westberlin plötzlich darum bemüht, jedes Stückchen Natur zu schützen.“

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So wurden durch die Bombardierung entstandene Freiflächen erhalten, um den Be­woh­ner*innen der eingeschlossenen Stadt etwas Natur zu ermöglichen. Man stellte fest, dass die Brachen einzigartig waren. Die Bombeneinschläge hatten jahrhundertealte Samen an die Oberfläche befördert, wo diese keimten. Plötzlich kehrte Flora zurück, die schon lange verloren geglaubt war.

Einer der ersten Botaniker, der sich intensiv damit befasste, war Wolfram Kunick. Seine 1974 publizierte Dissertation „Veränderung von Flora und Vegetation einer Großstadt dargestellt am Beispiel von Berlin (West)“ zeigte, dass die Stadt mit ihren Gebäuden, Ruinen und dem speziellen Klima eine eigene Umwelt mit eigener Flora und Fauna bildete. Um dieses veränderte Verständnis darzustellen, zeichnete Kunick einen Biotopen-Stadtplan. Eine völlig neue Herangehensweise: Zuvor hatten Botaniker*innen hauptsächlich mit Tabellen gearbeitet, in denen Bestände dokumentiert wurden. Kunick zeigte nun mit seiner Karte, dass die Beschaffenheit der Orte wichtig für die Vorkommen war.

Wildnis auf geschlossenen Brachen

Er dokumentierte auch das Gelände um den Potsdamer Bahnhof. Seit Kriegsende hatte es brachgelegen, weil es durch den Mauerbau vom Rest Ostberlins abgetrennt worden war. 1972 wurde der Bahnhof dann bei einem Gebietsaustausch Westberlin zugeschlagen. Mehr als ein Vierteljahrhundert hatte die Wildnis Zeit gehabt, sich das Gelände zu erobern, als Kunick es für seinen Biotopen-Plan dokumentierte. Heute ist von der Wildnis nichts übrig. Zwar ist etwa die Hälfte der Fläche immer noch ein Park, der Tilla-Durieux-Park. Mit seinen Rasenflächen ist dieser jedoch eine ökologische Wüste. Kuratorin Bartoli hat den heutigen Zustand für die Ausstellung fotografiert, um die drastische Veränderung aufzuzeigen.

Die Ausstellung „Archäologien der Nachhaltigkeit” ist noch bis zum 27. Oktober in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (ngbk) zu sehen. Der Eintritt ist frei, Öffnungszeiten: Täglich 12-18 Uhr, Fr 12-20 Uhr

Am 22. Oktober wird Kuratorin Sandra Bartoli in Anwesenheit von Wolfram Kunick um 15:00 Uhr durch die Ausstellung führen. Um 19:00 Uhr findet ein Vortrag mit dem Titel „‘Wie ein Hochmögender Gebieter in Adams Kostüm‘: Leberecht Migge und die Anfänge der ‘Sonneninsel‘” statt, gehalten von Thomas Elsaesser.

Auch Kunicks Doktorvater Herbert Sukopp dokumentierte 1984 in seinem Biotopenplan für ganz Westberlin die Stadtnatur in Kartenform. Der Plan war jedoch nicht einfach als Bestandsaufnahme gedacht, sondern sollte ein Planungswerkzeug für die Stadtentwicklung sein. Die Berliner Botanik wollte eingreifen, wurde politisch.

Das zeigte sich auch am 1979 beschlossenen Artenschutzprogramm. Darin wurde festgelegt, dass bei städtebaulichen Maßnahmen immer der Schutz von Flora und Fauna mitgedacht werden sollte. Sukopp formulierte den neuen Anspruch damals in den „Grundlagen des Artenschutzprogramms“ so: „Der Naturschutz reagiert und erhält nicht nur, sondern plant, gestaltet und renaturiert. Deshalb ist das Artenschutzprogramm nicht Abschluss der Arbeit, sondern kennzeichnet einen neuen Ansatz.“ Es war Pio­nier*innenarbeit: Das Artenschutzprogramm war das erste seiner Art für ein Stadtgebiet in der gesamten Bundesrepublik.

Bis heute wirkt es in der Gesetzgebung und in Initiativen fort – seit der Wende im gesamten Stadtgebiet Berlins. Doch die Errungenschaften des Artenschutzprogramms sind gefährdet: Die Gentrifizierung macht weder vor verwilderten Brachen noch vor Autobahn-Biotopen halt. Insofern kann die Ausstellung auch als Mahnung verstanden werden: Naturschutz darf nicht zu einer reinen Museums­angelegenheit werden.

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