Unglückliche Krieger

Von Lügen und Manipulationen als Instrumente der Politik erzählt Heiner Müllers „Philoktet“. Amir Reza Koohestani inszeniert am Deutschen Theater

Den Bildern sind die Farben entzogen, das Leben scheint herausgelaufen

Von Katrin Bettina Müller

Diese Sprache! Verse, angelehnt an das antike Versmaß, zeichnen in langen Windungen und Verschachtelungen zwar sehr genaue Bilder, aber ob man, am Ende angekommen, den Anfang des Satzes noch im Kopf hat, das ist die Frage. Heiner Müllers Drama „Philoktet“ zu lesen und sich langsam in den Rhythmus einzupendeln ist das eine; das Stück auf die Bühne zu bringen das andere. Keine einfache Übung.

Im Deutschen Theater übernimmt das der Regisseur Amir Reza Koohestani. Sein Interesse an Heiner Müller hat damit zu tun, dass er viel Vergleichbares sieht zwischen dem vergangenen System der DDR und der Gegenwart des Irans heute. Er hat auch schon Stücke von Heiner Müller für das iranische Theater übersetzt. Doch wird diese Folie des Bezugs auf zwei Systeme der Repression kaum greifbar in der Inszenierung in den Kammerspielen.

Heiner Müller schrieb seinen Text 1962, als er selbst ausgestoßen war aus dem Literatur- und Theaterbetrieb der DDR. Mit Philoktet setzte er auf eine antike Figur, die von Heldengeschichte nicht viel übrig lässt. Der Text setzt in einem Moment ein, der viel Vorgeschichte voraussetzt: Dass die Griechen Philoktet (Edgar Eckert) auf ihrem Feldzug ­gegen Troja auf einer Insel zurückgelassen haben, weil sein verletztes Bein so stank. Er macht dafür Odysseus (Jörg Pose) verantwortlich, der nun, zehn Jahre später, kommt, um ihn von der Insel Lemnos zu holen, weil eine Prophezeiung den Griechen gesagt hat, dass sie ohne Philoktet den Krieg nicht gewinnen können.

Dafür braucht Odysseus einen Helfer und nimmt einen jungen Krieger mit, Neoptolemos (Niklas Wetzel), von dem er ebenfalls gehasst wird. Der soll nun sein Agent werden und Philoktet für den Kampf gewinnen mit dem Versprechen, sich danach gemeinsam an Odysseus zu rächen.

Man hat also vor sich zwei unglückliche und verratene Männer, die ein dritter in eine komplizierte Intrige hineinzwingen will. Dass es misslingt, wundert nicht. Dass Odysseus am Ende eine neue Geschichte erfindet, um den toten Philoktet als Opfer der Feinde aus Troja darzustellen, ist die Schlusspointe. Keine Verfälschung, keine Erpressung wird gescheut, wenn es der Stabilisierung des Systems dient. Das ist bittere Erkenntnis und Anklage zugleich.

Der Inszenierung im Deutschen Theater gelingt es aber nicht so recht, diese Klage aus dem Schatten des Vergangenen zu lösen. Die drei auf der Insel bleiben ferne Gestalten. Es gibt nur wenige berührende, geisterhafte Momente. Kohestani und die Bühnenbildnerin Mitra Nadjmabadi nutzen Kameraprojektionen und Gitter aus Licht und Schatten, um die Insel in ein Zwischenreich zu tauchen, ein Ort zwischen den Lebenden und den Toten, in der Odysseus und Neoptolemos den leidenden Philoktet verfolgen. Den Bildern sind die Farben entzogen, das Leben scheint aus ihnen herausgelaufen. Die Traurigkeit und das Unglück der beiden betrogenen Krieger ist präsenter als ihr Hass und ihre Wut.

Dennoch hinterlässt der Odysseus von Jörg Pose den stärksten Eindruck: wie er seine Manipulationen und seinen Zynismus als das Notwendige darstellt und sich selbst nur als einen zurückgenommenen Diener an der Sache. Mit solcher Haltung befiehlt man Morde, mit einem kleinen Bedauern vielleicht, aber ohne schlechtes Gewissen, ja möglichst ohne Aufregung. Das ist gruselig.

Wieder am 12./18./26. + 29. Oktober.