Die EU pokert um unfaire Lösungen

In diesem Jahr kamen wieder mehr Flüchtlinge in Griechenland an. Die Türkei hält sie nicht mehr so radikal zurück, wie es der EU-Migrationspakt vorsieht. Man will mehr Geld. Darüber wird verhandelt. Derweil wird Griechenland mit den Problemen alleingelassen

Oktober 2019: Nach dem Feuer im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos dürfen Frauen und Kinder aufs Festland. Hier kommen sie im Hafen von Athen an Foto: Petros Giannakouris/ap

Von Christian Jakob

Der diplomatischen Taskforce zum EU-Migrationspakt sollten die Innenminister der beiden größten EU-Staaten angehören: Horst Seehofer (CSU) und sein französischer Amtskollege Christophe Castaner. Am Donnerstag und Freitag wollten sie zusammen nach Ankara und Athen reisen. Denn der 2016 geschlossene Deal mit der Türkei, der die Flüchtlinge in der Türkei hält, wofür die EU zahlt, bröckelt. In den letzten Monaten kommen immer mehr Flüchtlinge aus der Türkei in Griechenland an – was die EU zunehmend nervös macht. „Es ist dringend nötig, ungesetzliche Abfahrten aus der Türkei noch stärker zu verhindern und aufzuspüren“, sagte EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos. Doch nachdem ein Polizist in Paris am Mittwoch vier Kollegen erstochen hatte, blieb Castaner zu Hause, und Seehofer reiste nur mit Avramopoulos.

Der Migrationsdruck auf die Türkei sei „gewaltig“ und steige, sagte Seehofer in Ankara. „Und deshalb müssen wir schauen, wie dieser Pakt zwischen der Europäischen Union und der Türkei gekräftigt werden kann.“ Am Donnerstag traf er den türkischen Innenminister Süleyman Soylu. „Ohne eure Solidarität wäre das Migrationsproblem in unserer Region so nicht bewältigt worden“, lobte Seehofer – und dankte für diese „Leistung, die auch in die Welthistorie eingehen wird.“

Doch auch wenn die EU die Türkei noch so sehr bauchpinselt, ist offen, wie es weitergeht. Weil er mit den Hilfen aus Brüssel unzufrieden ist, hat der türkische Präsident Erdoğan die Grenzkontrollen in der Ägäis offenbar ausgedünnt. So kamen nach Zählung der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR in diesem Jahr 35.848 Flüchtlinge und MigrantInnen auf sieben griechischen Inseln an – mehr als im ganzen vergangenen Jahr. Etwa die Hälfte stammt aus Afghanistan und Syrien. Rund 30.000 Flüchtlinge und Mi­gran­tInnen sind derzeit auf den Ägäisinseln, es ist die höchste Zahl seit Inkrafttreten des Abkommens mit der Türkei. Die neue griechische Regierung hat klargemacht, dass sie die anderen EU-Staaten deshalb in der Pflicht sieht.

Wie dramatisch die Lage ist, wurde am vergangenen Sonntag klar: Da brach – offenbar durch einen Kurzschluss – ein Feuer im Lager Moria auf Lesbos aus. Bislang ist ungewiss, wie viele Menschen umkamen. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR hatte am Sonntag den Tod einer Frau und eines Kindes gemeldet. Die griechische Regierung hat bislang nur den Tod der Frau bestätigt. Schon zuvor hatte es immer wieder Tote in Moria gegeben: Im August wurde ein 15-jähriger Afghane bei einem Kampf zwischen Minderjährigen getötet. Am 24. September wurde ein fünfjähriger Junge von einem Lkw vor dem Tor überfahren. Auch das Feuer in Moria war nicht das erste. Im November 2016 löste ein Gaskocher einen Brand aus, zwei Menschen starben.

Moria ist ein mit Stacheldraht umzäuntes Containerlager auf einer felsigen Anhöhe, in Sichtweite der türkischen Küste. Es war ursprünglich als Internierungslager gedacht. Das Geld für den Bau gab Brüssel, 2014 nahm Griechenland es in Betrieb. Im Januar 2016 wurde das Lager zum ersten von insgesamt fünf „Hotspots“ genannten Registrierungszentren der EU in Griechenland. Hier wird entschieden, ob die Ankommenden für ein Asylverfahren infrage kommen – oder direkt in die Türkei zurückgeschickt werden; so jedenfalls die Theorie.

Platz bietet das Lager für 3.000 Menschen, derzeit sind etwa 13.000 dort. Die Zustände sind in jeder Hinsicht haarsträubend, Moria wirkt auf Besucher wie eine Mischung aus einem Slum und offenem Vollzug; die meisten Bewohner hausen unter Plastikplanen in Olivenhainen voller Müll und Exkrementen. Und die Menschen bleiben lange dort: Im Mai berichtete ein junger Afghane in Moria der taz, er sei bereits 2018 auf Lesbos angekommen – sein Termin für das Asylinterview sei für Juni 2020 vorgesehen.

„Als mehrere Container in einem riesigen Feuer brannten, gerieten die Gefangenen im geschlossenen Sektor des Lagers in Panik und versuchten, die Türen zu öffnen“, heißt es in einer Erklärung der Initiative Welcome to Europe, die Bewohner des Lagers nach dem Brand befragte. Die Polizei habe darauf mit Tränengasbeschuss reagiert.

Dass Griechenland die Ankommenden meist auf den Inseln festhält, statt sie auf das Festland zu bringen, hat mehrere Gründe. „Es soll abschrecken und entmutigen“, sagt eEleni Velivassaki, Anwältin bei der NGO Refugee Support ­Aegean, der taz. Hinzu kommt: Wer auf den Inseln ist, kann von sich aus nicht in andere EU-Staaten weiterreisen. Nach dem Brand am Sonntag hatten Menschenrechtsorganisationen gefordert, die Flüchtlinge schnell auf das Festland zu bringen.

Schon vor zwei Wochen hatte das Ministerium für Bürgerschutz die Präfekten der rund 50 griechischen Verwaltungszonen aufgerufen, anzugeben, wohin Flüchtlinge auf dem Festland gebracht werden könnten. Doch die Präfekten haben wenig Lust auf Elendslager. In einer gemeinsamen Erklärung lehnten sie die Errichtung neuer Lager auf dem Festland ab – um die „Einheit des Landes zu garantieren“, wie es nach griechischen Medienberichten in der Erklärung hieß. Und so kündigte Regierungschef Kyriakos Mitsotakis an, mehr Flüchtlinge in geschlossen Abschiebelagern zu internieren.

Das dürfte der deutschen Regierung recht sein. Deren Sprecher Steffen Seibert hatte sich nach dem Brand zu Wort gemeldet und mehr Abschiebungen in die Türkei verlangt: Die Zahl der Rückführungen dorthin müsse „rasch und deutlich gesteigert werden“, so Seibert. Die Linke-Abgeordnete Ulla Jelkpe hatte Seiberts Drängen scharf kritisiert: In der Türkei seien „Kinderarbeit, flüchtlingsfeindliche Pogrome, rassistische Ausgrenzung, Diskriminierung und mit Gewalt erzwungene Weiterschiebung von Schutzsuchenden in den Krieg in Syrien oder nach Afghanistan an der Tagesordnung“, so Jelpke.

Der UNHCR hatte am Sonntag den Tod einer Frau und eines Kindes im Lager Moria gemeldet

Die Abschiebungen sind Teil der Abmachung zwischen Brüssel und Ankara vom März 2016. Deren erster Satz lautet: „Alle neuen irregulären Migranten, die ab dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen, werden in die Türkei rückgeführt.“ Mitsotakis kündigte am Dienstag an, bis Ende kommenden Jahres 10.000 Flüchtlinge in die Türkei abzuschieben. „Reine Kraftmeierei“, sagt der Pro-Asyl-Europa­referent Karl Kopp dazu. Denn zum einen halten griechische Gerichte die Türkei vielfach für nicht sicher. Wohl auch deshalb hat Griechenland bislang nur sehr zurückhaltend in die Türkei abgeschoben – seit Inkrafttreten des Deals bis Ende August dieses Jahres nach einer UNHCR-Zählung 1.907 Menschen, davon etwa 700 aus Pakistan, 350 aus Syrien und 100 aus Afghanistan.

Zum anderen fehlen Kapazitäten für schnelle Asylverfahren. Dabei hat die EU über ihr Asylunterstützungsbüro EASO derzeit rund 500 Asylexperten und weiteres Personal nach Griechenland entsandt oder dort eingestellt, um die Asylverfahren zu beschleunigen. Vom deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind nach Angaben von EASO derzeit 21 Beamte vor Ort. Doch der neuen griechischen Regierung reicht das nicht. Sie will Geld und weiteres Personal aus anderen EU-Staaten, für die Asylverfahren und für den Grenzschutz. Und am liebsten soll die EU dem Land auch Flüchtlinge direkt abnehmen. Der bislang einzige EU-Umverteilungsmechanismus für Griechenland war im Oktober 2018 ausgelaufen. Über diesen konnten 22.000 Personen in andere EU-Staaten ausreisen, davon 5.390 nach Deutschland. Bislang hat die Regierung in Athen nicht gesagt, wie sie sich einen neuen Umverteilungsmechanismus konkret vorstellt – auch das sollte beim Treffen mit Seehofer am Freitagnachmittag Thema sein.

Möglich wäre dafür nach Ansicht von Karl Kopp, EU-Referenten von Pro Asyl, dreierlei: Deutschland und andere Staaten könnten die rund 4.400 in Griechenland festsitzenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge aufnehmen, denn für deren Versorgung gibt es in Griechenland keine Kapazitäten. Deutschland könnte die Fristen für den Familiennachzug für sogenannte Dublin-Fälle mit Angehörigen in Deutschland verlängern.

Oder, und das wäre die fairste Lösung: Griechenland würde in den wohl am 8. Oktober final beschlossenen Malta-Plan aufgenommen. Dieser sieht vor, dass im zentralen Mittelmeer gerettete Schiffbrüchige direkt aus Malta und Italien in andere EU-Staaten weiterreisen und dort ihren Asylantrag stellen dürfen. Für Gestrandete in Griechenland müsste das auch gelten.