Medizin und Maschinenpistolen: Jeder, wie er kann

ZUSAMMENHALT In Syrien verschmelzen der zivile und der bewaffnete Widerstand. Nur gemeinsam können Aktivisten und Kämpfer der Freien Syrischen Armee das Land zusammenhalten und nach einem Sturz des Regimes stabilisieren

BERLIN taz | Zunächst hatten die fünf Brüder der Familie Jamous an eine friedliche Revolution geglaubt. Ihr Heimatort Dael liegt im Süden des Landes, keine 15 Kilometer von Daraa entfernt, der „Geburtsstadt“ der syrischen Revolution, wo im März 2011 mit ein paar Schülergraffiti alles begann. Die beiden in Dael lebenden Brüder Walid* und Mohammed* demonstrierten, zwei Brüder im Moskauer Exil sammelten Geld, und Ammar, Bauingenieur in Dresden, wurde Mitglied der Koordinationsunion der Syrischen Revolution.

Ab Sommer 2011 trieb die Gewalt des Regimes immer mehr Demonstranten in den bewaffneten Kampf. Auch Walid. Wegen seines Engagements überfielen Assad-treue Schläger sein Haus. Bei Protesten im August 2011 sah Walid seinen besten Freund sterben, zweimal wurde er selbst angeschossen. Nachdem sein Onkel, ein Arzt, ihm das Leben gerettet hatte, schloss sich Walid der Freien Syrischen Armee (FSA) an. „Wenn sie mich töten wollen, will ich mich wenigstens verteidigen können“, habe er damals gesagt, erinnert sich Ammar. Der andere Bruder, Mohammed, war zuständig für die Rationierung von Heizöl, bis er im Dezember 2011 verhaftet wurde. Seitdem fehlt von ihm jede Spur.

Die Jamous-Brüder sind ein typisches Beispiel dafür, wie der Aufstand ganze Familien erfasst hat, wie Syrer im In- und Ausland zusammenarbeiten und wie der zivile Widerstand mit dem bewaffneten Kampf verschmolzen ist. „Ohne die FSA würde die humanitäre Hilfe nicht funktionieren“, sagt Ammar, der seit 1997 in Deutschland lebt. Bei der Evakuierung von Schwerverletzten sorgten die Zivilisten in den Untergrundkliniken zunächst für die medizinische Stabilisierung der Patienten, bis diese von FSA-Mitgliedern außer Landes gebracht würden. Hilfsgüter würden von Exilsyrern organisiert, an den Grenzen den Oppositionellen übergeben und unter dem Schutz der FSA weitertransportiert, erklärt der Bauingenieur.

Aktivisten und Kämpfer arbeiten effektiv zusammen. Die Menschen, die erst friedlich demonstrierten und dann zur Waffe griffen, kämpfen außerdem meist in der Gegend, aus der sie stammen. Sie sind nicht nur mit der Geografie, sondern auch mit der Bevölkerung vertraut, die sich häufig um die Versorgung der Aufständischen kümmert. Beide Bewegungen, der zivile und der bewaffnete Widerstand, sind deshalb nicht voneinander zu trennen.

Im Laufe von fast eineinhalb Jahren hat sich in Syrien eine Revolutionsstruktur herausgebildet, die für die Phase nach dem Sturz des Regimes entscheidend sein könnte. Lokale Komitees und Räte organisieren Proteste, ihre mediale Verbreitung, die Dokumentation von Opferzahlen, die Versorgung von Verletzten und Flüchtlingen, die Müllentsorgung sowie die Beschaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten. Damit übernehmen die Aktivisten nicht nur Verantwortung, sondern auch Aufgaben des Staates dort, wo dieser nicht mehr funktioniert.

Nach fast 50 Jahren Unterdrückung, Bevormundung und politischer Grabesruhe ist in Syrien die Zivilgesellschaft erwacht. Junge Syrer diskutieren, verteilen Aufgaben und lösen existenzielle Probleme. Oppositionelle Sunniten, Christen, Drusen und Alawiten arbeiten Hand in Hand, sie koordinieren sich mit Aktivisten und Deserteuren der FSA. Vielerorts funktioniert das so wie in Dael. Dort hat der örtliche Revolutionsrat, einer von landesweit mehr als 125 Räten, zwei Kommissionen, eine für humanitäre und eine für militärische Angelegenheiten. Etwa 20 Zivilisten organisieren die humanitäre Hilfe in Form von Spenden und medizinischer Versorgung. Das Geld stamme überwiegend von Verwandten im Ausland, sagt Koordinator Ammar. In der militärischen Kommission haben Deserteure das Sagen, sie beschützen Proteste und Hilfslieferungen, führen den Kampf mit der Armee und sprechen sich mit dem Militärrat der Provinz Daraa ab.

Fast alle syrischen Provinzen haben inzwischen einen Militär- und einen Revolutionsrat, beide arbeiten mal mehr, mal weniger zusammen. Zunehmend schließen sich Rebelleneinheiten zu Brigaden zusammen, die einer zentralen militärischen Führung unterstehen und sich zu internationalem Recht bekennen. In Damaskus etwa vereinigte Oberst Abdullah al-Rifai Mitte August mehrere Bataillone zur Brigade „Widerstand des Volkes“ und kündigte an, diese werde sich an die Genfer Konvention halten.

Al-Rifai knüpfte mit seiner Erklärung an einen Verhaltenskodex an, den die Lokalen Koordinierungskomitees, eine der Basisorganisationen der Revolution, Anfang August formuliert hatten. Er verpflichtet die Rebellen, Gefangene korrekt zu behandeln, nicht zu foltern, zu vergewaltigen, zu plündern, außergerichtlich hinzurichten oder Geiseln zu nehmen.

Das von zahlreichen FSA-Kommandeuren unterzeichnete Dokument beweist, dass Kämpfer und Aktivisten an einem Strang ziehen und angesichts von Gewaltexzessen einzelner Rebellengruppen den bewaffneten Kampf besser strukturieren und kontrollieren wollen. Damit legen sie den Grundstein für eine gemeinsame geordnete Machtübernahme von Zivilisten und Militärs nach dem Ende des Regimes Assad. KRISTIN HELBERG

* Namen geändert

■ Kristin Helberg ist Journalistin und lebte von 2001 bis 2008 in Damaskus. Ihr Buch „Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land“ erscheint am 24. September