Provinz und Metropole: So klappt’s auch mit den Nachbarn

Alle drängen in die Metropolen. Es braucht neue Strukturen, damit Dörfler gerne bleiben und Städter die Dörfer lieben lernen.

Illustration eines Mannes am Zaum

Helfen könnten gegenseitige Wertschätzung und Toleranz sowie Interesse aneinander Illustration: Katja Gendikova

Sie wirken arglos. Aber sie sind es nicht. In der kleinen Brandenburger Gemeinde, die ich seit mehr als zwanzig Jahren meine Heimat nennen darf, treten sie in letzter Zeit vermehrt auf: Städter auf Immobiliensuche. Manche tragen Strohhütchen und ziehen Bollerwagen durch den Ort, drin sitzen ihre Kinder und nuckeln an Biobrezen. Andere preschen in Carsharing-Autos über die sandigen Schlaglöcher, steigen aus und schieben ihre Sonnenbrille ins Haar. Habitus: Ich weiß, ihr habt auf mich gewartet – jetzt bin ich ja da.

Ich beobachte sie von meiner Terrasse aus. Und sie tun mir leid. Ich sehe, wie sie, scheinbar beiläufig, über Hecken lugen und dabei Grundstücke und Häuser mustern. „Wie wäre es mit dem hier?“, fragen sie einander verstohlen und deuten mit einer Kopfbewegung auf die Laube unserer Nachbarin. Klick macht die Handykamera. Und tatsächlich, der Garten wirkt ungepflegt, das windschiefe Häuschen wie vergessen. Aber das ist es weiß Gott nicht. Denn gerade neulich erst hat die alte Frau P. ihr Grundstück verkauft. Und, halleluja, sie ist jetzt eine gemachte Frau. Strohhütchenmann und Sonnenbrillenfrau sind deutlich zu spät dran mit ihrer Idee, abseits des überteuerten Innenstadtbereichs nach was Eigenem zu suchen. Sorry, sold out!

Am liebsten würde ich sie am Ärmel zupfen und mit dem Finger weit ins Brandenburgische weisen, das nur achtzig Kilometer später schon Vorpommern heißt. Denn dort gibt es noch ausreichend Platz und Häuser und Wälder, samt Seen sowie Angler- und Jagdvereinen.

Es fehlt an Jobs

Aber ja, zugegeben, da draußen in der Provinz wartet auch jede Menge Unwägbarkeiten. Es fehlen die Jobs. Es ist umständlich, hinzukommen, und wirtschaftlich und habituell mindestens herausfordernd, dort sein Glück zu suchen. Die Provinz wählt zunehmend rechts, Provinzler gebärden sich als Opfer der Verhältnisse, denen sie es via Wahlschein heimzahlen zu meinen müssen. Auch wenn diese fatale, fast schon selbstverletzende Schlussfolgerung Unsinn ist – mit ihrem Gefühl der Zweitklassigkeit haben viele recht. Leider. Landschaft kann man bekanntlich nicht essen. Und Straßen, die ins wirtschaftliche Nichts führen, sind einfach nur sinnlos verbauter ­Beton.

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Das muss sich schleunigst ändern. Die Dörfler sollten von der Politik durch gute Bedingungen dazu gebracht werden, zu bleiben, statt die Städte noch weiter zu verstopfen. Und die Urbaniten müssten den Umzug in die Provinz nicht als Niederlage, sondern vielmehr als Gewinn in mannigfacher Weise verstehen lernen. Das aber hieße: Es muss sich was ändern in diesem Land. Politisch, wirtschaftlich, ökologisch, kulturell.

Die Umstände und die Beziehungen zwischen Städtern und Provinzlern sind aktuell ziemlich gestört. Hier die Hinterwäldler mit dem Hang zum Fertighaus und dem Fahnenmast samt Schwarz-Rot-Gold im Schottergarten. Dort die elaborierten Urbaniten, die keinen bezahlbaren Platz finden, um ihren privaten Plan vom Glück umzusetzen. Wechselseitig ist jeweils eine ganze Menge Geringschätzung im Spiel. Und das, obwohl sich ein jeder nach dem jeweils anderen sehnt – nach der großartigen gefährlichen Stadt und dem entschleunigten Zauber des Ländlichen.

Toleranz und Interesse

Helfen könnten da ein bisschen mehr gegenseitige Wertschätzung und Toleranz sowie Interesse aneinander. Aber natürlich vor allem die gute alte Struktur- und Standortpolitik. Will sagen: Die Städter müssen raus ins Land gelockt werden. Und dafür muss das Land eine Verheißung sein, eine Anwartschaft auf ein anderes, aber vor allem ­gutes Leben in der gesellschaftlichen Mitte. Wenn das Dorf, die Kleinstadt nicht länger verdammt ist, sich selbst als die allenfalls dritte Wahl unter den gängigen Lebensentwürfen zu verstehen und von anderen auch so wahrgenommen zu werden – dann klappt’s auch wieder mit den Nachbarn.

Außerdem: Jobs, Jobs, Jobs, und zwar nicht nur die miesen.

Was es dafür braucht – manchmal nicht mehr, aber weitaus öfter auch noch nicht –, sind jene Netze, die der Mensch im 21. Jahrhundert grundsätzlich braucht. Der Deutsche Landkreistag hat das gemeinsam mit dem Bauernverband in diesem Sommer mal in einem Positionspapier an die Bundesregierung zusammengefasst. Die Forderungen sind derart naheliegend, dass man sich fragt, warum es überhaupt eine Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ braucht, die seit Jahresfrist länglich und unter großem me­­dialem Getöse darüber berät, was wohl zu tun wäre, um mehr Menschen zu einem zufriedenen Leben zu verhelfen.

Kommunen und das Geld

Zum einen wäre da ein Nahverkehr, der die Menschen schnell, zuverlässig und sicher hi­nein- und hinausträgt. Zum Zweiten natürlich ein vernünftiges Breitbandnetz. Fangt endlich damit an, Herrgott! Und zwar bevor der letzte Handwerker, die beharrliche Architektin und der IT-Frickler ihre Gehöfte verlassen haben. Dann natürlich Ärzte. Und Kitas, Schulen, Horte, die ihren Namen verdienen. Außerdem: Jobs, Jobs, Jobs, und zwar nicht nur die miesen. Was wiederum bedeuten würde, Forschungseinrichtungen, Fachhochschulen, Behörden in der Provinz anzusiedeln. Schaut nach Bayern! Dort ist derlei seit Jahrzehnten politische Praxis. Und natürlich: Geld. Gebt den Kommunen endlich mehr Selbstbestimmung bei den Finanzen.

Und nicht zuletzt: eine neue, weitaus bessere Erzählung. Strukturschwach, abgehängt, vereinsamt – das ist das Wortbesteck der allermeist in den Landeshauptstädten lebenden und arbeitenden PolitikerInnen und Medienleute. Ihre Haltung: wohlmeinend; ihre Erzählung: mitleidig. Wer soll so was wollen, Leute?

Dabei leben aktuell lediglich 31 Prozent der 81 Millionen BundesbürgerInnen in den Metropolen. Aber 15 Prozent verbringen ihren Alltag in Gemeinden mit weniger als 5.000 EinwohnerInnen, 27 Prozent in Kleinstädten, weitere 27 Prozent in sogenannten Mittelstädten mit 50.000 bis 100.000 BewohnerInnen. Man kann also festhalten, dass die überwiegende Mehrheit der BürgerInnen dieses Landes sich nicht entscheiden muss zwischen Hafermilch für sich und trilingualer Privatschule für ihre Kinder. Sondern exakt die eine Wahl hat: gesellschaftliche Normalität.

Das Spießige macht Angst

Dieser aus metropolitaner Perspektive vermutlich langweilig anmutende Gang der Dinge gewinnt angesichts überfüllter Städte zunehmend an Attraktivität. Und tatsächlich erscheint es auch mir, der geborenen Berlinerin, nach mehr als zwei Jahrzehnten Waldesrauschen, Flussplätschern in angenehmer Leere wahnsinnig stressig, wenn nicht gar unmöglich, in einer immer gröber, enger und dreckiger werdenden Stadt wie Berlin Kinder großzuziehen. Ich sehe den Stress in den Augen des Hütchenmanns und der Sonnenbrillenfrau flackern.

Aber ich sehe eben auch: mit Furcht gemischte Verachtung, wenn sie auf unsere getrimmten Hecken schauen und die geputzten Briefkästen. Und um ehrlich zu sein: Das Spießige hat auch mir anfangs Angst eingeflößt. Aber hier kommt die gute Nachricht: Es gibt auch Wildhecken. Nein, niemand kontrolliert deinen Briefkasten. Und, ja, auch der stark Dialekt sprechende Dörfler ist ein interessanter Gesprächspartner.

Da draußen in der Provinz gibt es sie noch, die rare Ware: freie Wohnungen und Häuser, in den Nachwendejahren dichtgemachte Schulen und Kitas, freie Gewerbeflächen. Was fehlt, sind die Jobs, noch. Angesichts metropolitaner Fantasiemieten, übergroßer Kitagruppen und verstopfter Verkehrswege ist es nur noch eine Frage der Zeit, dass die Städter gezwungen sein werden, ins Ungewisse aufzubrechen. Und das Ungewisse, das ist die Provinz.Wenn es da läuft, weicht auch endlich mal Druck aus dieser verängstigten Gesellschaft, die Marina und Herfried Münkler in ihrem aktuellen Buch „Abschied vom Abstieg“ beschreiben. Die Autoren – sie Literatur-, er Politikwissenschaftler – analysieren darin diesen selbstzerstörerischen Spin der politischen Ränder, es gehe mit diesem Land permanent bergab. Wir alle seien im Grunde verloren. Beide halten es für geboten, haben sie kürzlich in einem Welt-Interview erklärt, „das Dramatisierungspotenzial von Abstiegs- und Niedergangsnarrativen offenzulegen und die daraus folgende Zerstörung von Zuversicht“. Denn: „Negative Narrative sind Doping für ­extreme Parteien.“

Dabei muss man gar nicht rechts denken oder wählen, um auf komische Gedanken zu kommen. Die immer voller werdenden Großstädte werden zusehends zur Zumutung für jene, die auf der Suche nach einem guten Platz im Leben sind. Menschen mit doppeltem Einkommen, mit Kindern und vielleicht alten Eltern – kurzum: mit einem Leben – werden in der hochspekulativen sozialen Hackordnung nach unten verwiesen. Da warten sie dann auf einen glücklichen Zufall, um mithalten zu können im Rennen um Zufriedenheit, Bildung, Gesundheit.

Manchmal tritt er ein, dieser Zufall. Dann dürfen sie ein, zwei Plätze vorrücken, vorbei an jenen, die nichts zu hoffen haben: Zuwanderer, Beeinträchtigte, Hartz-IV-Empfänger, Alleinerziehende. Ein neoliberales Trauerspiel. Die Frage ist, ob dieses Land, diese Gesellschaft so weitermachen kann. Und die Antwort darauf ist ein deutliches Nein.

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1965, ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie berichtet vor allem über die Unionsparteien und die Bundeskanzlerin.

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