Der 40. Jahrestag der DDR 1989: Am Ende nur Nebel

Als alles schon in Auflösung war, feierte die DDR ihren 40. Jahrestag. Ein intimer Bericht über den Niedergang des Alten und Hoffnung auf Neues.

Eine Menschenmenge vor der Nicolaikirche in Leipzig

Menschen demonstrieren vor der Nikolaikirche in Leipzig am 7. Oktober 1989 Foto: Martin Jehnichen

Der 40. Jahrestag der DDR stand vor der Tür. Mürrisch hatte der Eisenwarenhändler nebenan die DDR-Fahne gehisst. Sein Laden war eine Fundgrube – Einmachgläser, Schrauben, Töpfe. Kundschaft kam aus der ganzen Stadt. Einmal sah ich Gewandhauskapellmeister Kurt Masur, in Leipzig eine Institution, in den Laden gehen.

Ich wohnte seit Sommer 1988 in Leipzig-Lindenau. Jeden Morgen um halb sieben steckte der Postbote das Neue Deutschland, kurz ND, durch den Türschlitz. Ein weiches Geräusch, das mich weckte. Da ich Parterre wohnte, fiel mir das ND vor die Füße. Mit dem Umzug in meine erste eigene Wohnung hatte ich das „SED-Zentralorgan“ abonniert. Ich kam aus einem Dorf bei Magdeburg, hatte fünf Jahre in einer LPG gearbeitet und war seit 1987 Student der evangelischen Theologie an einem kleinen kirchlichen Seminar. Ich wollte aus erster Hand wissen, welche Botschaften die SED bereithielt.

Jetzt, kurz vor dem 7. Oktober 1989, quoll die Zeitung über. Verdiente Bürger und Kollektive wurden geehrt, Ehrenbanner überreicht, Orden verliehen. Das SED-Politbüro lud Widerstandskämpfer, Aktivisten und Veteranen zur Feier. Erich Honecker beförderte Generale der NVA und der Staatssicherheit. Die DDR – für Honecker war sie ein „Glück für die Völker Europas“ und ein „fester Sperrriegel“ gegen alle Versuche, die Nachkriegsordnung zu revidieren. Die Liste der Staatsgäste, die eintreffen würden, wurde immer länger.

Die chinesische Delegation war schon am 2. Oktober gelandet. Es war auffällig, wie sehr die SED das Verhältnis zur Volksrepublik China betonte, die ebenfalls ihren 40. Jahrestag feierte. Anfang Juni war die KP in Peking mit Panzern gegen Zehntausende demonstrierende Studenten vorgegangen. Es gab Hunderte Tote, vielleicht mehrere Tausend. Jetzt trafen sich die Genossen zum Erfahrungsaustausch.

Laut hatte Politbüromitglied Egon Krenz die Umsicht der Genossen in Peking gelobt. Nicht ein Toter sei auf den Fotos zu sehen, nur Schauermärchen aus dem Westen, echauffierte er sich. Dann wurde es ruhig. Im Sommer legte sich eine Lähmung über das Land. Der DDR liefen die Menschen davon und Erich Honecker war abgetaucht. Er sei krank, hieß es in den Westmedien. Das ND schwieg sich aus.

Der Sommer in Leipzig war erträglich. Wenn der Wind von Süden wehte, hatte die Luft einen süßlichen, nicht mal unangenehmen Geruch. Er kam aus den Schornsteinen des Braunkohleveredlungswerkes Espenhain. Im August schrieb ich eine Arbeit über gotische Kathedralen. In der Deutschen Bücherei tauchte ich ein in eine Welt, die ich nie zu Gesicht bekommen würde. Jedenfalls nicht vor meinem Renteneintritt. Die göttlichsten Kathedralen standen in Paris, Reims, Chartres. Ich war 25. Es war absurd.

Mit meinem Freund Mike, Theologiestudent wie ich, zog ich eines Abends mit einer Leiter los. In Leipzig gab es noch Straßenschilder aus Emaille. Aus unerklärlichen Gründen hat der allgegenwärtige Verfall diesen Schildern nichts anhaben können. „Uhlandstr.“ stand in weißer Fraktur auf tiefblauem Grund über uns. Dieses eine wollten wir haben. Als Andenken an etwas, das untergehen wird. Kein DDR-Relikt, nur etwas Schönes. Ich stieg hinauf. Doch sosehr ich mich bemühte, es drehte sich nichts. Die Schrauben waren verrostet. Nach ein paar Versuchen zogen wir ab.

Am 7. September meldete sich Erich Honecker zu Wort. Das ND druckte ein Interview, das der SED-Generalsekretär mit der polnischen Wochenzeitung Polityka geführt hatte. Sie war in den 80er Jahren zu einem regierungskritischen Blatt geworden und sympathisierte mit der Gewerkschaft Solidarność. Am 24. August hatte das polnische Parlament Tadeusz Mazowiecki zum Ministerpräsidenten gewählt. Damit hatte Polen, beispiellos im Ostblock, einen Regierungschef, der nicht der kommunistischen Nomenklatura angehörte.

Für Honecker war das Interview wohl eine Zumutung. Es drehte sich um die Möglichkeit einer deutschen Vereinigung, um Gewalt von Skinheads und um die schleppende Grenzabfertigung nach Polen. Honecker lobte die „feste Kampfgemeinschaft“ zwischen Polen und der DDR, pries den „Sozialismus in den Farben der DDR“ und beteuerte, BRD und DDR ließen sich ebenso wenig vereinigen „wie Feuer und Wasser“.

Zu Semesterbeginn Anfang Oktober traf sich unsere Seminargruppe in meiner Wohnung. Alle waren da. Keiner war über Ungarn in den Westen geflüchtet, keiner war über den Zaun der Prager Botschaft geklettert und saß nun in einem der Züge, die über Dresden in den Westen fuhren. Aber jeder hatte Freunde, die „rübergemacht“ waren. Alles klang nach Endzeit. Unser Vertrauensdozent, er lehrte Philosophie und Kirchengeschichte, reicherte den Abend mit Düsternis an. Er hatte als junger Mann den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und seine blutige Niederschlagung erlebt. Warum, so fragte er, sollte die SED heute anders reagieren? Er wollte uns nicht einschüchtern. Er hatte Angst um uns.

An diesem Abend keimte Zweifel in mir auf, ob es richtig war, den Gedanken kategorisch auszuschließen, dass auch ich einmal in den Westen gehen würde. Am 2. Oktober hatte das ND die „Ausweisung“ der Prager Botschaftsflüchtlinge vermeldet und getobt, dass diese Menschen ihre Heimat verraten, „die moralischen Werte mit Füßen getreten“ und sich selbst ausgegrenzt hätten. „Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.“ Zwei Tage später schloss sich die Grenze zur CSSR, das einzige Land, in das man noch spontan reisen konnte. Das Land machte dicht.

Nach dem Semesterabend steckte ich alle Untergrundzeitschriften, Flugblätter, Zettel, alles, was mich belasten könnte, in eine Tüte, stieg in den Keller und versteckte den Packen unter den Kohlen. Das war völlig albern. Sollte die Stasi meine Wohnung durchsuchen, würden sie bald auch im Keller schnüffeln. Aber irgendetwas wollte ich tun. Einfach nur herumsitzen, ging nicht.

Viele waren mutiger

Ich hielt mich nicht für besonders exponiert. Viele Freunde waren mutiger, riskierten mehr und standen unter permanentem Druck der Stasi. Rainer etwa. Ich war gerade nach Leipzig gezogen, da nahm er mich im Herbst 1987 mit zum montäglichen Friedensgebet in die Nikolaikirche. In einer Seitenkapelle trafen sich etwa zwanzig, dreißig Aktive aus verschiedenen Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen zur Andacht und tauschten Informationen, Papiere, Einladungen aus. Nächtelang war Rainer unterwegs, immer konspirativ, immer übermüdet, immer voller Nachrichten. 1988 wurde er mit zwei anderen Kommilitonen exmatrikuliert. Der Vorwurf: Sie würden nicht mehr die Studienleistung erbringen. Zuvor hatten sie bereits Verweise erhalten. Jeder ahnte, dass es die SED war, die massiv Druck ausgeübt haben muss.

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Die drei galten als Rädelsführer, waren die Friedensgebete doch von der Kapelle in das Hauptschiff der Nikolaikirche umgezogen, die sich stets bis auf den letzten Platz füllte. Inzwischen kamen mehr und mehr Ausreiseantragsteller. Die drei verließen das Seminar, offiziell auf eigenen Antrag hin. Nach einem Jahr, so das vage Versprechen, sollten sie wieder studieren dürfen. Sie waren fortan vogelfrei. Da sie keine Anstellung mehr hatten, konnten sie jederzeit als „Arbeitsscheue“ verurteilt werden. Im Januar 1989 saß Rainer mit mehreren anderen Oppositionellen fast eine Woche im Gefängnis. Sie hatten Flugblätter verteilt.

Ich wurde am 7. Mai 1989 zum ersten Mal „zugeführt“. So hießen die Festnahmen, bei denen man nicht wusste, ob sie Stunden, Tage oder gar Wochen dauern würden. Es war der Tag der Kommunalwahlen, als ich am Hauptbahnhof aus der Straßenbahn heraus festgenommen wurde. Nicht mit Handschellen. Man nahm mich Verdutzten einfach in die Mitte. Am Sonntagabend fand auf dem Marktplatz eine Demonstration von Nichtwählern statt. Man wähnte mich als Mitwisser, dabei wusste ich nichts. Dem Verhörer tischte ich auf, dass ich in die Oper gehen wollte. „Mit dem Pullover?“, fragte er entgeistert. Nach 24 Stunden war ich wieder frei.

Der Lada vor dem Haus

Seit diesem Tag wartete immer wieder ein Stasi-„Lada“ in der Seitenstraße, insbesondere an den Wochenenden, an denen Aktionen geplant waren. Ich ließ dass Papierrollo fortan unten und schnitt ein kleines Loch hinein. Zur Demonstration am Weltumwelttag, dem 4. Juni 1989, warteten sie auch. Tage vorher hatten sie mir eine Vorladung „Zur Klärung eines Sachverhalts“ durch den Briefschlitz geschoben. Ich ging nicht hin, sondern stahl mich über Hinterhöfe, wurde dann aber mit Dutzenden anderen in Leipzig-Connewitz auf Polizei-Lkws geladen. Um Mitternacht kamen wir wieder frei. Das ND am nächsten Morgen las sich wie eine Prophezeiung: „Volksbefreiungsarmee Chinas schlug konterrevolutionären Aufruhr nieder“. Ich schnitt die Überschrift aus und klebte sie an meine Küchentür, wo schon viele Schlagzeilen klebten. Von Hoffnung kündete keine.

Solange die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag nicht vorbei waren, würde sich die SED zurückhalten. Aber danach? Am 9. Oktober stand das wöchentliche Friedensgebet an. An den beiden Montagen zuvor gab es im Anschluss Demonstrationen, wie sie Leipzig noch nicht gesehen hatte. Am 2. Oktober zogen Tausende über den Ring, riefen „Gorbi!“, sangen „Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht, die Internationale erkämpft das Menschenrecht!“, skandierten „Wir bleiben hier!“ und „Wir sind das Volk!“ Der Ring wirkte wie ein Resonanzraum. Es war ein unglaubliches Gefühl. Der Verkehr stand still. Wir waren viele. Sehr viele.

Fast kamen wir bis zur „Blechbüchse“, dem Kaufhaus mit der markanten Metallfassade. Dort hatten sich Hundertschaften von Volkspolizisten untergehakt. Was dann geschah, hatte ich noch nicht erlebt. Immer mehr Demonstranten und Demonstrantinnen schnappten sich die Schirmmützen und warfen sie hoch. Die Mützen schienen in der Luft zu tanzen. Und die Polizisten? Sie standen untergehakt und mussten mit ansehen, wie ihre Autorität in den Rabatten landete.

Am 6. Oktober war es die Leipziger Volkszeitung, die den Ton weiter verschärfte. „Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden“ stand über dem Brief der Kampfgruppenhundertschaft „Hans Geiffert“, den die Zeitung druckte. Ihr Kommandeur schimpfte auf „gewissenlose Elemente“, die „staatsfeindliche Provokationen durchführen“. Man sei bereit, die „konterrevolutionären Aktionen“ endgültig zu unterbinden. „Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!“

Honeckers Singsang

Am selben Tag fuhr ich mit Kommilitonen nach Magdeburg. Der Zug war überfüllt. Einer von uns hatte ein Radio dabei. Wir wollten nicht verpassen, was Michail Gorbatschow, er war in Ost-Berlin angekommen, sagt. Wir hörten aber immer nur Honecker. Enttäuscht äfften wir seinen Singsang nach: „Vorwärts immer! Rückwärts nimmer!“

Ich gehörte dem „Arbeitskreis Solidarischen Kirche“ (AKSK) an, einem Oppositionsnetzwerk innerhalb der evangelischen Kirche mit etwa 300 Mitgliedern, die DDR-weit in Regionalgruppen organisiert waren. Zweimal jährlich trafen wir uns zur Vollversammlung. Erstmals fand sie in Magdeburg statt. Das Gemeindezentrum im Magdeburger Norden lag abseits. Vom „Republikgeburtstag“ war nichts zu spüren.

Unsere Dauerthemen waren die Kritik an den Machtstrukturen der Kirche, wir setzten uns für die Ordinierung schwule Pfarrer ein und dafür, dass geschiedene Pfarrerinnen und Pfarrer keine Disziplinarmaßnahmen fürchten mussten. Und es ging um die Demokratisierung der DDR. Diesmal verabschiedeten wir eine Erklärung zum 40. Jahrestag. Ich kann mich an den Inhalt nicht erinnern. Die Ereignisse diktierten eine andere Agenda. Nachrichten stürzten herein. Schlagstöcke in Dresden, in Berlin, in Leipzig, auch im Zentrum von Magdeburg. Wie viele solcher „Feiertage“ würde es noch geben?

Ein Gast war über diese Frage schon hinaus. Jedenfalls, was sein Land betraf. Adam Krzeminski war aus Warschau angereist und berichtete vom Machtwechsel, der in Polen eingeleitet wurde und der Rolle der Katholischen Kirche – und von seinem Interview mit Erich Honecker. Krzeminski war Redakteur der Polityka und hatte das Gespräch geführt. Doch was hieß Gespräch? Krzeminski erzählte, wie er seine Fragen in der DDR-Botschaft abgab und er Tage später die Antworten erhielt.

Aufbruchstimmung

Es gab auch hoffnungsvolle Nachrichten. Die neuen Bürgerbewegungen stellten sich vor. Das Neue Forum hatte enormen Zulauf. In Schwante bei Berlin gründete sich gerade die Sozialdemokratische Partei der DDR, die SDP, in einem Pfarrhaus und unter Beteiligung etlicher Pastoren. Und eine Pastorin kam mit einem Aufruf aus Ost-Berlin. Die neuen Gruppen und Bewegungen sollten zur nächsten Wahl in einem gemeinsamen Bündnis antreten – dem späteren „Bündnis 90“.

Zu den Mitgliedern des AKSK, die später bundespolitisch aktiv wurden, gehörte Marianne Birthler, 1990 wurde sie in Brandenburg Bildungsministerin, später leitete sie elf Jahre die Stasi-Unterlagenbehörde. Weniger bekannt wurde Eddi Stapel, der 1990 den Schwulenverband gründete und als „Vater der Homo-Ehe“ gilt. Und dann war da noch Katrin Göring-Eckardt. Sie war Mitglied der Thüringer Gruppe. In Magdeburg war sie nicht dabei.

Der 9. Oktober war wolkenverhangen. Mike und ich fuhren mit Rädern in die Innenstadt. Das Zentrum glich einer Festung. Ganz gleich, wohin wir schauten, Reihen von Polizei-Lkws säumten die Straßen. Auf den Dächern des Hauptbahnhofs bewegten sich Gestalten. Sie hatten von dort den Ring gut im Blick. Sie sind doch nicht etwa bewaffnet? So sehr wir uns auch anstrengten, Details konnten wir nicht erkennen.

Kirchen als Orte der Opposition

Enorm viele Menschen waren auf den Beinen, alle Innenstadt-Kirchen standen offen. Doch was heißt offen? Die Nikolaikirche war überfüllt, die Thomaskirche auch, die Reformierte Kirche auch. In der Michaeliskirche, außerhalb des Rings, kamen wir unter. Am Eingang bekam jeder ein Weizenkorn. Auch Arbeiter im Blaumann drängten hinein. Etwas unschlüssig standen sie da. Vermutlich waren sie lange nicht mehr in einer Kirche.

In einer Seitenstraße sahen wir Lkws. Polizisten standen herum. „Jungs, geht nach Hause“, ruft Mike wie ein Prophet. „Jetzt ändert sich alles. Auch euer Leben“

Inmitten der Andacht – an die Lieder und Gebete erinnere ich mich nicht – kam der sächsische Landesbischof herein und verlas eine Erklärung, die von sechs Leipzigern unterzeichnet worden war – Kabarettist Bernd Lutz Lange, Dirigent Kurt Masur, dazu ein Theologieprofessor von der Uni und drei SED-Sekretäre. „Bürger! … Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten …, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog … geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit.“ Der Bischof eilte zur nächsten Kirche. Eigentlich war es nichtssagend, was er da verlesen hatte. Aber dass Kurt Masur, ohne Zweifel die größte Autorität, seinen Namen darunter setzte, gab den Worten Gewicht. Aber welches?

Wir strömten aus der Kirche. Eins fiel sofort auf. Die Polizeikolonnen waren wie vom Erdboden verschluckt. Stattdessen war der Ring, ja die ganze Innenstadt, schwarz vor Menschen. Die einen strahlten, die anderen schauten ungläubig. Die Staatsmacht, die bis in die letzten Minuten ihre Allmacht demonstrierte, hatte sich zurückgezogen. Es hatte etwas Unwirkliches, Feierliches. Die Straße gehörte uns. Und nicht nur die Straße, die ganze Stadt. Das Land. Die Straßenbahnen, völlig unschuldig, ragten wie gestrandete Schiffe aus dem Menschenmeer. 70.000 sollen es gewesen sein. Vielleicht auch 100.000 oder mehr. Wer konnte das ermessen? Und über allem lag die bedächtige Stimme von Kurt Masur. Der Stadtfunk – Hunderte Lautsprecher, die über den Ring verteilt waren – übertrug den Aufruf in Endlosschleife. Wir ließen uns treiben.

„Jetzt ändert sich alles“

Irgendwann gingen wir zu den Rädern zurück. Mikes Frau sollte nicht im Ungewissen bleiben. Die beiden hatten einen Sohn. Wir kauften einen Rucksack Bier und fuhren heim. In einer Seitenstraße sahen wir Lkws. Polizisten standen herum. „Jungs, geht nach Hause“, ruft Mike wie ein Prophet. „Jetzt ändert sich alles. Auch euer Leben.“ Sie hatten keine Ahnung, was passiert war. Was war eigentlich passiert? Der 9. Oktober war der Tag, an dem die DDR zu verschwinden begann. Dieses kleine, eingezäunte Land, von dem wir dachten, dass es unser Schicksal war, löste sich auf wie ein Nebel. Eine Woche später trat Honecker zurück. Einen Monat später fiel die Mauer. Das hat mich nicht annähernd so berührt wie dieser Montag von Leipzig.

Mike gehörte wenig später zu den Gründern der Leipziger SDP. Auf einer der Montagsdemos hielt er eine flammende Rede. Die Partei hat er schnell wieder verlassen. Heute lebt er in seiner sächsischen Heimatstadt und hat im vorigen Jahr eine Bürgervereinigung gegründet, die der AfD nahe steht. Rainer bekam aus dem Nachlass der Stasi einen „Lada“ als Dienstwagen. Rainer lebt in Leipzig, arbeitet ehrenamtlich in vielen Gremien, betreibt Stadtteilgeschichte, tritt als Zeitzeuge in Schulen auf und macht Führungen zu Orten der Friedlichen Revolution. Und er archiviert alles, was er zu diesem Thema finden kann.

Und ich? Ich zog das Papierrollo wieder hoch, kündigte mein ND-Abo und stand im Sommer 1990 vor der Kathedrale von Chartres. Sie war die schönste.

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