Weiblicher Weltschmerz

VERKORKSTES LEBEN Die französische Autorin Emmanuelle Pagano erzählt von einer einsamen, zu jungen Mutter – der leise Roman „Die Haarschublade“

Emmanuelle Pagano ist in einer Landschaft zu Hause, in der die Winter sehr kalt und die Sommer sehr heiß sind. Aber nichts, auch nicht das extreme Klima der Haute-Ardèche, bringt die Autorin aus der Ruhe. Ihr Ton ist teilnahmslos, ohne Empörung, ohne Aufregung, leise Sätze reihen sich aneinander, und nach 136 Seiten hört das Buch schon wieder auf, als hätte man eine flüchtige Bewegung nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen.

Die Frau, von der Pagano erzählt, lebt mit ihren zwei Kindern im Süden von Frankreich, in einer winzigen Wohnung. Der jüngere Sohn heißt Titouan und ist ein aufgewecktes Kind. Pierre, der Ältere, ist fünf Jahre alt, stumm, taub, sein Gehirn wurde bei der Geburt durch Sauerstoffmangel geschädigt. Da war seine Mutter noch ein Teenager. Jetzt muss sie das Kind so lieben, wie es ist. Aber nicht nur, dass die Leute im Dorf sie komisch ansehen – ihre Liebe zu ihm scheint unerwidert zu bleiben.

Auch sonst ist sie ganz auf sich gestellt. Die Väter der Kinder sind verschwunden. Ihrem eigenen Vater, einem Polizisten, rutscht oft die Hand aus. Ihre Mutter will Pierre in einem Heim unterbringen. Dort sei der Junge besser aufgehoben, sagt sie ihrer Tochter. Die hat schließlich keine Ausbildung und verdient ihr bisschen Geld als Aushilfe in einem Friseurladen, wo sie von tratschsüchtigen Damen über ihr verkorkstes Leben ausgefragt wird. Sie nimmt es hin, wie es ist, lässt sich vom Leben treiben, von Männern missbrauchen und verprügeln, im Friseursalon herumschicken, ohne dass sich etwas in ihr regt. Nur Haare sind ihr wichtig, wie ein Ersatz für alles, ein mehr oder weniger sinnfreier Fetisch. Die Haare ihrer Söhne dürfen nicht geschnitten werden. Sie bewahrt eine Strähne ihres eigenen pechschwarzen Mädchenhaars in einer Schublade auf. Zum Spaß macht sie ihren Söhnen, die sich ja nicht wehren können, Frisuren mit Spängchen, einem lavendelfarbenen Band, steckt ihnen Federn ins Haar und knotet barocke Hochsteckfrisuren, die sie dann schnell wieder löst, weil sie sich doch schämt.

Ein Moment des Eigensinns in ihrer absichtslosen Existenz. Ihre Gleichgültigkeit könnte man sozial begründen: Armut und Gewalt stumpfen ab. Überhaupt könnte man versuchen, dem Buch den einen oder anderen Diskurs anzuhängen. Alleinerziehende Mutter, sexuelle Gewalt. Ausgrenzung, Armut. Der wachsende Niedriglohnsektor in der EU. All das enthält das Buch, und all das scheint ihm aber auch egal zu sein.

Denn solche Diskussionen sind Pagano zu einfach, zu, nun ja, sentimental, denn immerhin beruhen sie auf gemeinschaftlichem Denken, und die Einsamkeit einer Mutter, die ihr Kind nicht versteht, lässt sich nicht auflösen, indem Integrationsschulen zur Verfügung gestellt werden. So sieht es Pagano zumindest. Ein weiblicher Weltschmerz. Sie kann nur die Schultern zucken angesichts des Leids, von dem sie erzählt. „Impassibilité“ hieß diese kühle Erzählhaltung bei Flaubert, der die Einsamkeit sozusagen erfunden hat. „Der Tag ist lang“, schreibt Pagano über einen weiteren Nachmittag, den die junge Mutter mit ihrem stummen Kind verbringt.

Pagano, geboren 1969, bekam sehr jung ihr erstes Kind, das sie allein großzog. Während ihres Studiums der Filmwissenschaft verdiente sie sich ihr Geld mit Putzen. Was ich schreibe, ist wahr, hat sie einmal gesagt. Sie habe eine Frau gekannt wie die, von der sie erzählt, eine zu junge Mutter mit einem behinderten Kind, die sich zu einem Entschluss durchringen muss.

Pagano macht sich selbst zu einer Figur in ihrem Roman, ein literarischer Cameo-Auftritt. Sie ist die „Nachbarin“, die etwas geistesabwesend durch die Welt schleicht, die Haare vor dem Gesicht, stets ein Buch unterm Arm. Kann sein, dass alles wahr ist, aber eigentlich ist es auch egal, denn die „Haarschublade“ liest man wegen der Atmosphäre, wegen Paganos Fähigkeit, mit ein paar Sätzen eine Stimmung entstehen zu lassen, wie ein Zeichner ein paar Striche aufs Papier zieht. ELISABETH RAETHER

Emmanuelle Pagano: „Die Haarschublade“. Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Wagenbach, Berlin 2009, 144 Seiten, 16,90 Euro