Einfach mal den Fahrplan vorlesen

Texte schließen Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können, in vielen Alltagssituationen aus. Darauf und auf die Arbeit des Kreuzberger Bildungsträgers AOB, der seit 40 Jahren Kurse für sogenannte funktionale Analphabeten anbietet, macht eine Fotoausstellung aufmerksam

Für die meisten völlige Normalität, für manche eine gewaltige Hürde: Motiv aus der Foto- ausstellung Foto: Jesús Cabrera Hernández

Von Uta Schleiermacher

Wer bei einem Date oder dem Essen mit Verwandten die Speisekarte nicht lesen kann, muss viel Mut zusammennehmen, um das zuzugeben und um Hilfe zu bitten. Eine typische Alltagssituation, in der Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können, ausgeschlossen werden. „Ähnlich ist es beim Fahrplan für den Bus oder bei Formularen beim Arzt oder im Amt“, sagt Maria Dobreff. Sie koordiniert das „Alpha-Bündnis Friedrichshain-Kreuzberg“ und arbeitet außerdem beim Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe (AOB), der in Kreuzberg Schreib- und Lesekurse anbietet. „Auch eine Adresse zu notieren oder online Banküberweisungen und Handyverträge abzuwickeln, ist eine große Hürde.“

Laut Dobreff bringt das nicht nur unangenehme Situationen im Alltag mit sich, sondern kann Menschen regelrecht schaden. „Viele gehen dann gar nicht oder viel zu spät zu Ärzt*innen, weil sie sich schämen, wenn sie dort etwas ausfüllen müssen. Und das führt dann zu gesundheitlichen Problemen“, sagt sie. „Der Arztbesuch ist tatsächlich meist einer der ersten Punkte, die die Menschen, die zu uns kommen, als Problem nennen.“

„Funktionaler Analphabetismus“ heißt es offiziell, wenn Menschen zwar einzelne Buchstaben oder Wörter lesen können, aber keine ganzen Sätze. „Das ist kein Randproblem, das betrifft sehr, sehr viele Menschen“, weiß Dobreff. Nach einer Studie von 2018 gelten bundesweit 12 Prozent der Erwachsenen als „gering literalisiert“. Das wären in Berlin statistisch gesehen 300.000 Menschen, in Friedrichshain-Kreuzberg 34.000. Genauere Zahlen gibt es nicht.

Ein aktuelles Problem

Die Fotoausstellung „Steht doch da“ im Mehrgenera­tio­nenhaus, Gneisenaustraße 12, zeigt Alltagssitua­tio­nen, in denen Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können, mit Texten konfrontiert sind. So wird ihnen immer wieder Teilhabe erschwert. Der Fotograf Je­sús Cabrera Hernández hat dabei mit Menschen zusammengearbeitet, die Lese- und Schreibkurse beim Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe e. V. in Kreuzberg besuchen. Vernissage ist am Dienstag, 17. September, um 18 Uhr, die Ausstellung geht bis zum 14. Oktober und ist montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei.

„Es ist auch kein vergangenes Problem, sondern es setzt sich immer noch fort“, sagt Dobreff. „Trotzdem reagiert die Öffentlichkeit immer wieder geschockt auf Studien, die zeigen, dass Menschen durchs Schulsystem gehen können, ohne richtig lesen und schreiben zu lernen.“ Denn tatsächlich habe nur ein knappes Viertel der sogenannten funktionalen Analphabeten überhaupt keinen Schulabschluss. „Aber fast alle, die zu uns kommen, hatten große Probleme in der Schule.“

„Nicht lesen und schreiben zu können, ist immer noch ein großes Tabu“, sagt auch Margret Müller, die seit rund 30 Jahren Kurse beim AOB gibt. „Die Gesellschaft begegnet diesen Menschen mit dem Vorurteil, dass sie dumm sind.“ Dabei spielen viele Faktoren eine Rolle, Lese-, Rechtschreibprobleme, Sprachstörungen, Probleme beim Spracherwerb etwa können Gründe sein, die zu funktionalem Analphabetismus führen. „Wenn die Schule dann nicht angemessen reagiert und sich Schule und Elternhaus nicht genügend auf die Kinder einlassen, verstärken sich die Pro­bleme“, so Müller.

Eigentlich müssten die Kinder dann eine Lerntherapie bekommen. „Doch es dauert teilweise ein Jahr, bis das bewilligt wird, und die Schule muss sich dahinterklemmen, oder die Unterstützung muss von den Eltern kommen.“ Für diese Arbeit sei oft keine Zeit im System Schule. „Es hängt meist am Geld. Eine Ka­tas­tro­phe, dass so ein reiches Land wie Deutschland das nicht hinkriegt“, findet Müller.

Statistisch gesehen sind 34.000 Menschen in Friedrichshain-Kreuzberg „funktionale Analphabeten“

Der AOB bietet seit rund 40 Jahren Lese- und Schreibkurse an, daneben auch psychosoziale Beratung. Laut Müller ist es „für einige ein Ziel, in der U-Bahn die Zeitung lesen zu können, um sich dazugehörig zu fühlen“, andere wollen lernen, Formulare auszufüllen, oder melden sich zum Kurs an, wenn sie Kinder bekommen. Mehr als die Hälfte der Kursteilnehmer*innen sei berufstätig. Seit einiger Zeit steige die Zahl derer, die nicht Deutsch als Muttersprache haben. „Die Kurse bieten auch einen Schutzraum. Hier sind sie nicht die Gescheiterten, sondern die Norm“, sagt Maria Dobreff.

In der Anfangszeit war der AOB auch bundesweit eine der ersten Einrichtungen, die sich mit Lese- und Schreibproblemen beschäftigte. Inzwischen ist das Thema politisch präsenter. In Berlin wird es bald in jedem Bezirk ein „Alpha-Bündnis“ geben, um Kurse zu koordinieren oder etwa Mitarbeiter*innen in Jobcentern oder im Gesundheitswesen für den Umgang mit funktionalen An­al­pha­be­t*in­nen zu sensibilisieren.

Und um die Gesellschaft auf das Problem aufmerksam zu machen: Dazu will der AOB jetzt mit einer Foto­ausstellung im Mehrgenera­tio­nen­haus Gneisenaustraße das Bewusstsein für Situationen schaffen, in denen Texte und Schrift Menschen ausschließen können. „Unser Ziel ist nicht, dass alle lesen und schreiben können. Unser Ziel ist, Menschen das Leben zu erleichtern, die es nicht oder nicht gut können“, sagt Dobreff. „Da würde es schon helfen, wenn sie nicht ständig mit Scham und Ausgrenzung konfrontiert werden.“ Statt einem schroffen „Steht doch da“ als Antwort könnten Angesprochene einfach anbieten, eine Informationstafel kurz vorzulesen.