Lange Suche nach Verantwortlichen

Seit seine Mutter vor mehr als fünf Jahren im Krankenhaus Bremen-Ost starb, kämpft sich Noah Akin durch die Instanzen. Er wirft der Klinik vor, seiner Mutter lebensrettende Maßnahmen verweigert zu haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist nun seine letzte Hoffnung

Krankenzimmer: Ermittlungsverfahren gegen MedizinerInnen kommen selten zur Anklage Foto: Daan Stevens/Unsplash

Von Jan Zier

Scheinermittlungen. Immer wieder taucht dieses Wort auf, wenn es um den Tod von Ayten Akin geht. „Von einem rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahren kann nicht mehr die Rede sein“, schreibt die Anwältin Sabine Hummerich in ihrer Beschwerde, die nun, am Ende eines langen Rechtsstreits, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorliegt. Die Straßburger RichterInnen sind, rein juristisch betrachtet, so etwas wie die letzte Hoffnung in diesem Strafverfahren.

Ayten Akin kam wegen einer Routineuntersuchung ins Krankenhaus Bremen-Ost und fiel mehrere Wochen später, am 24. Februar 2014, nach einer Lungenspiegelung ins Koma. Sie erwachte nicht mehr. Noah Akin war der rechtliche Betreuer seiner stark pflegebedürftigen Mutter und somit auch dafür verantwortlich, über ihre Behandlung zu entscheiden. Der Lungenspiegelung hatte er nicht zugestimmt. Die Behandlung fand statt, noch bevor er mit den Ärzten darüber hatte sprechen können.

Wenige Stunden nach der Lungenspiegelung erlitt Ayten Akin einen Herzstillstand und fiel ins Koma, und zwar „aufgrund der unterlassenen Hilfe“, wie die Anwältin in ihrer Beschwerde schreibt. „Ich werde nicht reanimieren“, wird der Stationsarzt da zitiert. Eine Aufnahme in die Intensivstation habe der Oberarzt abgelehnt, es sei ohnedies kein Bett frei. Auch der Anästhesist soll jede Notfallbehandlung abgelehnt haben. Er solle sich von seiner Mutter verabschieden, sie werde sterben, sagte der Oberarzt zu Noah Akin. So steht es in der Beschwerdeschrift von Hummerich. Ayten Akin lebte dann noch einen Monat lang. Nach einer Intervention des Chefarztes war sogar am selben Tag noch Platz auf der Intensivstation.

Noah Akin wirft dem Krankenhaus vor, seiner Mutter lebensrettende Maßnahmen verweigert zu haben, obwohl er diese als ihr Betreuer vehement eingefordert hatte. „Es war so, als hätte meine Mutter selbst den Wunsch auf Leben geäußert.“ Aber dies sei „komplett übergangen worden. Es gab keine rechtliche Grundlage dafür, keine medizinischer Notfallhilfe zu leisten“, sagt Akin. Das sei „eine rechtsstaatliche“ Katastrophe par excellence.“ Er spricht darum von „Totschlag durch Unterlassen“, also Vorsatz. Das Verfahren wird aber, was ihn unruhig macht, wegen „fahrlässiger Tötung“ geführt.

Doch die RichterInnen und StaatsanwältInnen sahen das stets anders. Zuletzt wurde eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht nicht einmal zur Entscheidung angenommen, nach zweieinhalb Jahren, ohne Begründung.

„Den Arzt als Täter gibt es nicht, das kann und darf nicht sein“

Sabine Hummerich, Anwältin

Weit über fünf Jahre ist es her, dass Ayten Akin starb. Und so lange kämpft ihr Sohn Noah Akin schon vor den Instanzen. Er fühlt sich inzwischen „vom Rechtsstaat verlassen“ – so steht es nun unter Punkt 71 der 13-seitigen Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Und die Entscheidung des Gerichtshofs wird endgültig sein.

Ein knappes Jahr nach dem Tod von Ayten Akin stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen die behandelnden Ärzte wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen ein. Begründung: Es bestehe „kein hinreichender Tatverdacht“. Die Generalstaatsanwaltschaft sah das später auch so: Ein kausaler Zusammenhang zwischen der fehlenden Behandlung und dem Tod von Akin sei „nicht feststellbar“. Und wer genau der Täter war, sei „nicht feststellbar“.

Beide Staatsanwaltschaften stützten sich auf ein „vom Arbeitgeber der Verdächtigen überreichtes Gutachten“, das „an wesentlichen Stellen fehlerhaft“ war, sagt Anwältin Hummerich. Die Staatsanwaltschaften hätten es „unhinterfragt übernommen“, dabei seien schon dessen Vorannahmen über den Zustand der Patientin falsch gewesen.

Auch das Oberlandesgericht kam zu dem Ergebnis, dass „keine überwiegende Wahrscheinlichkeit“ für eine Verurteilung bestehe – ein Verschulden der Ärzte werde nicht nachweisbar sein, so das Argument, an den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sei nichts auszusetzen. Dabei, moniert Hummerich, seien diverse ZeugInnen weder zeitnah noch überhaupt vernommen worden. „Das Skandalöseste“ seien die nachlässig geführten Ermittlungen, und im Falle der kommunalen Klinikholding Gesundheit Nord, zu der auch das Krankenhaus Bremen-Ost gehört, seien sie in Bremen „von besonders großer Wurstigkeit“. „Hier wird das Recht einer Schwerkranken auf ärztliche Behandlung negiert und damit das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt“, klagt die Anwältin.

Noah Akin und seine Mutter Ayten vor etwa zehn Jahren Foto: Benno Schirrmeister

Doch bei den Bundesverfassungsrichtern drang sie damit nicht durch. „Hier sind Schein­ermittlungen von allen Seiten als hinlänglich aufgefasst worden, immer auf der Basis der Auffassung, die Verstorbene sei ja bettlägrig und alt und krank, wahrscheinlich moribund gewesen, da sei das Verhalten der Ärzte rechtmäßig.“ Hummerich hofft, dass die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte über den Umweg des Ministerkomitees des Europarats am Ende dazu führen, dass doch wieder gegen die behandelnden Ärzte ermittelt wird.

Aus Sicht der Anwältin ist der Fall Akin durchaus kein Einzelfall. Hummerich vertritt auch Claudia Beck, deren Tochter Melissa vom Krankenhaus Bremen-Ost als „arbeitsfähig“ entlassen wurde und sich Stunden später erhängte. „Das war fahrlässige Tötung“, sagt Claudia Beck, die der Psychiatrie der Klinik „arztlose Scheinbehandlungen“ vorwirft. Und auch in diesem Fall spricht Sabine Hummerich von „massiven Scheinermittlungen“.

„Den Arzt als Täter gibt es nicht, das kann und darf nicht sein“, sagt sie – aber das sei ein „bundesweites Phänomen“. Eine 2007 erschienene Dissertation, die 210 Ermittlungsverfahren gegen MedizinerInnen und Pflegepersonal aus den Jahren 1989 bis 2003 ausgewertet hat, kam zu dem Ergebnis, das 85 Prozent der Ermittlungsverfahren mangels hinreichenden Verdachts eingestellt wurden, weitere 8 Prozent gegen Zahlung einer Geldbuße. In weniger als 4 Prozent der Fälle kam es zurAnklage.