Experimentell und visionär

Endlich setzt man sich mit László Moholy-Nagys Typografie-Raum von 1929 auseinander. Das Buch „Moholy-Nagy und die Neue Typografie“ ist eine der absolut gelungenen Publikationen des Bauhaus-Jahres

László Moholy-Nagy: Wohin geht die typographische Entwicklung, Tafel 1 Fotografie, 1929 Foto: Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Von Brigitte Werneburg

Es wurde nicht nur neu gesehen und neu gebaut in den 1920er Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, sondern auch neu geschrieben, gesetzt und gedruckt. 78 Schautafeln von László Moholy-Nagy, die die Kunstbibliothek ihr eigen nennt, gehören zu den herausragenden Dokumenten dieser Entwicklung. Erstmals seit 90 Jahren waren sie vor Kurzem und nur für zwei Wochen in der Kunstbibliothek zu sehen.

„Wohin geht die typografische Entwicklung“ war 1929 Moholy-Nagys Raum im Kunstgewerbemuseum im Martin-Gropius-Bau betitelt, mit dem der künstlerische Allrounder der Ausstellung „Neue Typografie“ ein eigenes didaktisches Konzept voranstellte.

Die Rekonstruktion des Raums durch Petra Eisele und Isabel Naegele vom Institut Designlabor Gutenberg der Hochschule Mainz und Michael Lailach von der Kunstbibliothek dürfte dem – leider schriftlich wie visuell kaum dokumentierten und diskutierten – Original ziemlich nahegekommen sein.

Das liegt nicht nur an der ­akribischen Recherche, die der Rekonstruktion vorausging. Es liegt auch an Moholy-Nagys genial simpler wie wohl durchdachter Anlage der Schautafeln und ihrer Präsentation im Raum.

Die 78 Tafeln wurden von ihm zweireihig zwischen drei Schienen gesteckt, die den Wänden in Leserichtung entlangliefen, jetzt unterbrochen von einzelnen Beispielen aktueller Plakatgestaltung, wie sie in der nachfolgenden Ausstellung zu finden gewesen waren. Die Tafeln mit den aufmontierten und collagierten Drucksachen und fotografischen Reproduktionen zeigen nicht nur die Leistungen der neuen Typografie, sondern entwerfen gleichzeitig deren Genealogie von den italienischen Futuristen, den Calligrammes von Guillaume Apollinaire bis hin zu den „exakten geometrischen lösungen“ der Konstruktivisten.

Ganz wesentlich aber beherrschte ein Thema den Raum und rechtfertigte seinen Titel: der neue Fotosatz. „anstelle des satzes tritt der monteur des druckmodells. Die aus foto, hand- und schreibmaschinenschrift, satzstück, farbe. etc. zusammengestellte seite wird fotografisch reproduziert, und nach der fotoplatte eine druckplatte hergestellt“, schrieb Moholy-Nagy in konsequenter Kleinschreibung, die ebenso zur Neuen Typografie gehörte wie die Einhaltung der industriellen DIN-Normen bei Drucksachen, Formularen und Reklameschriften.

Ein Manifest

Die foto- und typografische Montage des Satzbildes freilich gehörte nicht zu den Leitideen der Neuen Typografie, im Gegenteil, sie „ist keine setzarbeit mehr“ wie Moholy-Nagy sagte. Wie experimentell seine Vorstellung noch war, zeigt die abfotografierte und aufs Maß der normierten Tafeln vergrößerte Schreibmaschinenschrift von Moholy-Nagys Manifest zur Entwicklung der Typografie. Erst ein Jahr später, 1930, wurde die Uhertype, die erste Fotosatzmaschine der Welt, vorgestellt.

Wo Moholy-Nagy seine Idee der Verschmelzung von Foto- und Typografie, von einer neuen nicht hierarchischen Raumaufteilung von Schrift und Bild auf dem Blatt tendenziell realisiert sah, waren vor allem die Buchgestaltung und die Werbeanzeigen in amerikanischen Illustrierten – so jedenfalls zeigen es die Schautafeln – oder im Buch.

Der Katalog der Ausstellung enthält die 78 Ausstellungstafeln als Reproduktion. Dazu kommt ein wunderbares, von A bis Z sortiertes Glossar, in dem namhafte Autoren die wichtigsten Begriffe in der Debatte zur Neuen Typografie und Neuen Gestaltung erläutern.

Das Buch ist eine der absolut gelungenen Publikationen des Bauhaus-Jahres 2019. Naturgemäß gab auch hier das Jubiläum Anlass, sich endlich mit Moholy-Nagy Typografie-Raum von 1929 auseinanderzusetzen.

Zu diesem Zeitpunkt war der ungarische Künstler freilich schon aus dem Bauhaus ausgeschieden und lebte in Berlin, wo er vor allem als Bühnenbildner für die Krolloper und die Piscator-Bühnen für Furore sorgte.

Da er sich auch als Gestalter von Ausstellungen einen Namen gemacht hatte, scheint es nur naheliegend, dass er vom „ring neuer werbegestalter“, dem unter anderem Schwitters, Willi Baumeister, Max Buchartz, Walter Dexel, Paul Schuitema, Jan Tschichold und Piet Zwar angehörten, eingeladen worden war, sich seinem Gusto gemäß an ihrer Ausstellung „Neue Typografie“ zu beteiligen.

Petra Eisele, Isabel Naegele, Michael Lailach (Hrsg.): „Moholy-Nagy und die Neue Typografie: Ein A–Z“. Verlag Kettler, Dortmund 2019, 256 Seiten, 65 Euro