„Von vornherein Grenzen gesetzt“

Zum Saisonauftakt der Bremer Philharmoniker spricht Dirigent und Generalmusikdirektor Marko Letonja über die Dringlichkeit der Kunst – und über wenig erfreuliche Arbeitsbedingungen

Stemmen sieben Opern- premieren, 58 Konzerte und noch 30 Schulprojekte: Die Bremer Philharmoniker Foto: Marcus Meyer/ Bremer Philharmoniker

Interview Jens Fischer

taz: Herr Letonja, Sie leben im tasmanischen Hobart und in Straßburg, waren letzte Spielzeit nur so zehn Wochen in Bremen, in der jetzt startenden sollen es mindestens 14 sein. Wollen Sie weiter in Hotels wohnen oder auch an der Weser heimisch werden und eine Wohnung suchen?

Marco Lentonja: Ja, im Viertel. Ich wohne gern nah am Arbeitsort. Denn ich bin schon sehr oft auf dem Weg zum Auftritt in einem Taxi stehen geblieben, und dann wird es knapp, man ist nervös vor dem Konzert und das geht bei meiner Arbeit nicht. Wenn ich es bis zum Konzertsaal oder bis zum Theater in 20 Minuten Fußweg nicht schaffe, dann habe ich ein ungutes Gefühl.

Aber Ihr Probenort, die Plantage in Findorff, ist ja mehr als 20 Minuten zu Fuß vom Theater und der Glocke entfernt.

Ja, aber wir versuchen, möglichst wenig dort zu arbeiten, weil das kein idealer Ort ist, um es vorsichtig auszudrücken, jedenfalls werden die Mindestbedingungen für Proben, gerade in großer Besetzung, kaum erfüllt. Wir reden vom Volumen.

Es ist eng?

Noch nicht einmal eng, es ist die Höhe des Raums, die Musik braucht einen bestimmten Klangraum, aber in der Plantage können wir überhaupt nicht über einen Klang reden. Meine Musiker müssen dort täglich in einem Saal spielen, in dem sie sich miteinander nicht hören, das ist untragbar. Ein Gegenbeispiel wäre das Sinfonieorchester von Birmingham, wo dem Dirigenten Simon Rattle ein wunderbarer, neuer Probensaal gebaut wurde, über den er später sagte, nur weil er diese Stradivari zur Verfügung gehabt habe, sei die Entwicklung des City of Birmingham Symphony Orchestras zu einem der besten Klangkörper der Welt möglich gewesen. Das wäre mein größter Wunsch, dass wir einen Probenraum bekommen, in dem das Potenzial des Orchesters auch entwickelt werden kann. Dazu muss man wissen, dass die Musiker ja die Hälfte ihrer professionellen Zeit auch noch in einem weiteren vollkommen ungeeigneten Raum verbringen: dem Orchestergraben des Theaters Bremen. Der ist einfach zu klein und akustisch inakzeptabel. Dazu haben wir die Glocke, die einen Hauch überakustisch ist, aber ich liebe den Saal.

Sie haben jetzt ein Jahr intensiv mit den Philharmonikern gearbeitet. Wie würden Sie die Stärken des Orchesters beschreiben und wohin wollen Sie mit ihm noch?

Bisher war das romantische bis spätromantische Repertoire bedeutend für die Philharmoniker. Klar ist, wenn man ein Orchester besser machen will, dann muss man Wiener Klassik spielen, das heißt Haydn, Mozart und auch Beethoven. Wir dürfen diese Stilistik nicht vergessen und müssen außerdem dafür sorgen, dass das Zusammenspiel und die individuelle Intonation der Musiker noch besser werden. Der Klang soll leise, aber intensiv sein. Ich will kammermusikalische Erlebnisse in puncto Transparenz und rhythmischer Präzision auch auf der großen Orchesterebene erzielen.

Sie wollen das Programm erweitern?

Wir erzählen die Geschichte der Sinfonie bis zum 200. Jubiläum der Bremer Philharmoniker in der Saison 2024/25 und kontrastieren Werke verschiedener Epochen miteinander, etwa die deutscher Erstaufführung eines Cellokonzerts des 1988 geborenen Marc Simpson mit Gustav Mahlers 1. Sinfonie aus dem Jahr 1888 oder Werke von Mozart, Lutoslawski und Schostakowitsch. In diesen Begegnungen soll deutlich werden, was bahnbrechend in den Werken ist und wie sich die Komponisten beeinflusst, bereichert haben.

Haben die Bremer Philharmoniker einen eigenen Klang, arbeiten Sie daran?

Jedes Orchester hat gewiss seinen eigenen Klang. Unserer kann im Detail noch individueller und schöner werden, wenn wir die räumliche Probensituation optimieren könnten, denn mit der jetzigen Situation sind uns von vornherein Grenzen gesetzt.

Sie haben einmal gesagt, in zehn Jahren würde es klassische Symphoniekonzerte nicht mehr live im Konzertsaal geben. Warum?

Wir sehen weltweit die Tendenz, dass die Leute keine Abonnements mehr kaufen und das junge Publikum wächst nicht in dem Maße nach, wie das alte wegstirbt. Aufgrund der schwindenden Zuschauerzahlen und nicht steigenden Zuschüssen der Kulturpolitik müssen wir neue Konzepte entwickeln. Die Mauer zwischen Bühne und Zuschauerraum gilt es zu durchbrechen. Daher machen wir weiter symphonische Flashmobs, laden zu Proben ein, Interessierte dürfen auch neben den Musikern sitzen, um aus ihrer Perspektive Livemusik zu erleben. Wir bieten zwanglose After-Work- und so viele Familienkonzerte wie noch nie an …

… auch Klassik-Eventformate mit Feuerwerk, Popcorn und lustigen Verkleidungen?

Es geht ganz bestimmt nicht in die Richtung einer Profanisierung. Ich bin ein Traditionalist, aber ich bin eben der Ansicht, dass Tradition an sich nicht mehr funktioniert.

Bereits gemäßigt moderne Musik ist schwer zu vermitteln.

Foto: Sean Fennessy

Marko Letonja hat bis 1989 in Ljubljana und Wien studiert. Nur zwei Jahre später wurde er Musikdirektor der Slowenischen Philharmonie. 2018 wurde er zum Generalmusikdirektor der Bremer Philharmoniker ernannt.

Das ist natürlich dadurch bedingt, dass viele Orchester immer den gleichen Kanon von der Klassik über die Romantik bis zur Spätromantik spielen. Das ist das, was die Leute lieben und was die Orchestergröße bei uns auch hergibt. Aber deswegen haben die Zuhörer den Eindruck, dass über 50 Jahre alte Werke von György Ligeti absolut modern sind. Dabei würde niemand ein in den 1960er-Jahren gebautes Auto heute noch als absolut modern wahrnehmen.

Welche Dringlichkeit hat es, 2019 noch Sinfonien spielen?

Es ist unsere Pflicht darauf zu achten, dass die Aussagen der Sinfonie zu den Zuschauern durchkommen, sei es Traurigkeit, Melancholie, Aggression, Liebe, Emotionen, Energie …

… die Relevanz der klassischen Livemusik für unsere Zeit liegt darin, dass sie Gefühle anspricht?

Ja.

Sie dirigieren ja zum erstem Mal auch Oper in Bremen: Verdis „Falstaff“. Das ist jetzt musikalisch nicht so aufregend und dann inszeniert mit Paul-Georg Dittrich auch noch ein Regisseur, der mehr in Bildern, als in Musik denkt …

Zu Dittrich kann ich noch nichts sagen, aber die letzte Viertelstunde der Musik ist eine der größten Herausforderungen in der Opernliteratur, die Schlussfuge sehr schön und auch sehr schwierig. Ich denke, „Falstaff“ hat diese Leichtigkeit der Konversation, dort muss man ja ein Stück von Mozart in einem von Verdi entdecken, das wird spannend.

Konzertwoche: Do, 26. 9., bis Mi, 2. 10., Glocke. Programm:www.bremerphilharmoniker.de