Gelenkte Wahlen in Russland: Für die Liebe

Ljubow Sobol ist zum Gesicht der russischen Opposition avanciert. Weil sie nicht in Haft ist wie ihre Mitstreiter aus der Opposition.

Eine Frau im roten Kostüm stützt sich beim Aufstehen auf die Stuhllehne und den Tisch

Ljubov Sobol bei einem Interview nach ihrem Hungerstreik Foto: Alexander Zemlianichenko

MOSKAU taz | Die Polizei kam am späten Montagabend zum Supermarkt, um sie abzuholen. Ljubow Sobol ließ die Einkäufe im Auto und ging mit den Sicherheitskräften mit. Auf überraschende Festnahmen sind Russlands Oppositionelle längst eingestellt.

Erst am vergangenen Samstag hatte Sobol auf einem Bordstein vor den Demonstranten in Moskau gestanden, hatte gerufen: „Wir haben das Recht, hier zu sein. Wir haben das Recht, unsere Meinung zu sagen. Das Recht, die Freilassung politischer Gefangener einzufordern.“ Ihre Stimme brach fast.

Es war eine ungenehmigte Protestaktion, die zum ersten Mal seit Langem ohne Festnahmen ablief. Diese folgten erst zwei Tage später, in der Moskauer Dunkelheit. Sobol, die 31-jährige Juristin, kam noch in der Nacht frei und bekam wenige Stunden später wegen Aufrufs zu einer nicht genehmigten Demonstration eine Ordnungsstrafe, wieder einmal. Die Zahlungen summieren sich inzwischen auf umgerechnet etwa 165.000 Euro. Zunächst hatte der Richter ihre Akte nicht gefunden, die Verhandlung drohte zu platzen.

Ljubow Sobol kennt die Auswüchse russischer Justiz. Auch die Auswüchse russischer Politik. An diesem Sonntag wäre sie gern bei der Wahl für das Moskauer Stadtparlament angetreten, wie es 228 der Stadtverwaltung genehme Anwärter für 45 Abgeordnetenposten nun tun. Die Zentrale Wahlkommission aber schloss Anfang Juli sie und 55 weitere oppositionelle Kandidaten aus. Seitdem hielten Tausende von Moskauern und Moskauerinnen jeden Samstag „politische Spaziergänge“ ab. Spaziergänge, bei denen Na­tionalgardisten teils brutal zuschlugen. Und nach denen die Behörden den Demonstranten „Massenunruhen“ vorwarfen. Erst am Dienstag hatten Richter drei junge Männer zu zwei bis fünf Jahren Strafkolonie verurteilt. Für einen Tweet, für den Einsatz von Pfefferspray, dafür, einen Polizisten geschubst zu haben. „Reine Willkürherrschaft“, hatte Ljubow Sobol noch im Gerichtssaal gerufen.

Die Wahlen Am Sonntag sind in Russland Regionalwahlen. In 18 Regionen werden neue Gouverneure und in 13 Regionen, darunter in Moskau, neue Parlamente gewählt. In Sankt Petersburg, der zweitgrößten Stadt Russlands, sind zudem Bezirksparlamentswahlen.

Die Opposition Viele Oppositionelle wurden zu den Wahlen nicht zugelassen, da die Unterschriftenlisten, die für eine Registrierung als Kandidat nötig sind, angeblich Formfehler aufwiesen. Im Zuge dieser Entscheidung kam es zu Protesten, bei denen bis zu 1.000 TeilnehmerInnen festgenommen wurden.

Da war sie wieder, ihre Wut auf „die Macht“, die den Menschen, wie die Juristin immer wieder sagt, mit ihrer Propaganda die Sinne vernebele und sie in politische Apathie zwinge. Sobol tritt seit Jahren dagegen an. Sie tut es verbissen, entschlossen, äußerst kontrolliert. Sie zu einem Gespräch zu treffen ist in diesen Tagen kaum möglich. Sie bestimmt, mit wem sie reden will, ignoriert jene, die sie für nicht wichtig hält. Sie muss ihre Kräfte schonen, immer noch. Ihr Hungerstreik, den sie nach 32 Tagen abgebrochen hatte, ließ sie abmagern, machte sie schwach. Kompromissbereiter machte er sie nicht.

Für die Oppositionelle entscheidet sich an diesem Sonntag nicht weniger als „das Schicksal unseres Landes. Wenn die Macht uns die Chance zur Wahl stiehlt, wird sie jede Wahl stehlen. Sie wird uns die Zukunft stehlen“. So spricht eine, die zu allem entschlossen ist, die auch einfach einmal bis Mitternacht auf einem Sofa im Gang der Zentralen Wahlkommission in Moskau sitzen bleibt, weil sie die Vorsitzende sprechen will. Weil sie dieser beweisen will, dass die Unterschriften, die ihre Mitarbeiter für die Zulassung zur Wahl gesammelt hatten, nicht gefälscht seien, wie ihr die Prüfkommission vorgeworfen hatte.

Sie ist eine Perfektionistin

Eine Kurzschlussreaktion der „Perfektionistin“, wie Sobol sich selbst bezeichnet. „Mich regen ja schon die zuweilen schief stehenden Schuhe meines Mannes auf. Was soll ich erst über die Lügen der Behörden sagen?“, sagte sie einst einem russischen Onlinemedium, um ihre Motivation zu erklären, in die Politik zu gehen. Fünf bullige Männer trugen die zierliche Anti-Korruptions-Kämpferin nach Stunden des Sitzstreiks schließlich auf die Straße, mitsamt dem braunen Behörden-Sofa.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

„Für die Liebe“, rufen Sobols Anhänger stets bei Protesten. „Ljubow“ bedeutet auf Russisch „Liebe“. Trotz zahlreicher Festnahmen blieb die Jungpolitikerin bislang auf freiem Fuß – weil sie eine fünfjährige Tochter hat. „Mira weiß, dass die Mama gegen Putin kämpft. Für sie ist er ein schlechter Onkel, der Geld stiehlt“, erzählt Sobol Journalisten, die sie nach ihrem Kind fragen. Die Juristin lebt in zweiter Ehe mit dem Anthropologen Sergei Mochow in Moskau.

Seit Jahren setzt sie sich für Freiheitsrechte in Russland ein – und gegen die Korruption. Sie war 23 Jahre alt, als sie als erste Juristin beim Projekt „Rospil“ des Kreml-Kritikers Alexei Nawalny anfing, der Galionsfigur der russischen Opposition. Darin gingen sie den Bereicherungsmechanismen russischer Eliten nach.

Die Tochter eines Wirtschaftsprüfers und einer Ingenieurin aus einem Moskauer Vorort hatte da gerade mit Auszeichnung ihr Jurastudium an der renommierten Moskauer Staatsuniversität abgeschlossen und Stellen bei McKinsey und der russischen Zentralbank in Aussicht. Sie entschied sich für das damals dreiköpfige Nawalny-Team. Schnell übernahm sie die Moderation der Morgenshow bei Nawalnys YouTube-Sender, stieg zur Produzentin des Kanals auf, der mehr als eine Million Abonnenten hat.

Hungern für mehr Gerechtigkeit

Bereits 2014 wollte sie Abgeordnete des Moskauer Stadtparlaments werden, sammelte aber nicht genügend Unterschriften, um zugelassen zu werden. Nach der russischen Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim taumelte Russland zu der Zeit in Euphorie.

Der Krim-Effekt allerdings ist längst verpufft. Das Protestpotenzial im Land steigt. Für Sobol sei das genau der Zeitpunkt, „die Ungerechtigkeiten eines ganzen Systems zu zeigen“, erklärt sie immer wieder auf allen Onlinekanälen, die sie geschickt einsetzt. Diesem Kampf ordnet sie vieles unter. Für den Hungerstreik war sie in den fensterlosen Keller ihres Kampagnenbüros gezogen. Im Netz wird ihre gesamte Familie verunglimpft. Ihr Mann hatte Ende 2016 einen Anschlag überlebt. Ein Unbekannter hatte ihm eine Spritze mit undefinierter Flüssigkeit in den Oberschenkel gejagt, daraufhin fiel Mochow in Ohnmacht. Wer hinter der Tat steht, hat die Polizei bis heute nicht herausgefunden.

Durch ihre unnachgiebige, auf viele unzugänglich wirkende Art ist Ljubow Sobol zum Gesicht der russischen Opposition avanciert. Ihre Bekannten sagen: „Wenn sie sich ein Ziel gesetzt hat, dann ist sie nicht mehr zu stoppen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.