Bewusste Enge

Geschichten, die einem der aktuelle Ikea-Katalog erzählt

Ikea-Kataloge bilden nicht die Realität ab. Das weiß man erstens sowieso und zweitens spätestens dann, wenn man sich von den kinderleicht aussehenden Aufbauanleitungen hat dazu hinreißen lassen, einen über Eck geplanten „Pax“-Kleiderschrank allein aufzubauen. Bevor man seine T-Shirts stapeln kann, muss man in Wahrheit durch ein Tal der Tränen.

Aber die Geschichten, die Ikea-Kataloge erzählen – keineswegs direkt, sondern in Bildern, Zusammenstellungen, Gesten –, sind immer wieder interessant. Auf den sozialen Medien sorgt die aktuelle Ausgabe für einiges „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“-Geraune. Die gezeigten Menschen in dem Katalog sind halt in vielerlei Hinsicht divers – eine, alles in allem, vielleicht noch utopische, aber auch sehr fröhliche Variation über das Ziel, ohne Angst jeweils anders sein zu können; klar, Hauptsache, man kauft bei Ikea.

Auffallen kann einem in dem Katalog aber noch sehr deutlich eine zweite Erzählung, und da weiß man erst mal nicht recht. Diese Erzählung handelt davon, dass man sich auch in beengten Wohnverhältnissen gut einrichten kann. „Mehr Fami­lien­leben pro m[2]“ verspricht die Überschrift auf Doppelseiten, in denen es um eine Familie mit fünf Kindern in drei Zimmern geht; die Eltern schlafen im Wohnzimmer auf der Schlafcouch. Etwas später wird eine Rentnerin in ihrem „schicken, kleinen“ Ein-Zimmer-Apartment vorgeführt, zwischen Bett und Esstisch steht ein funktionaler Raumteiler mit Regalfunktion. „Je weniger Platz zur Verfügung steht, desto mehr zählt das, was wesentlich ist“, steht da. Auf dieses Motiv des „Wesentlichen“ stößt man im Katalog häufiger. Beengte Verhältnissen werden, so das Grundmotiv, als Chance auf ein bewusstes Leben verkauft.

Sicher, das zielt auf den kleinen Geldbeutel. Wer sich 180-Quadratmeter-Apartments in Innenstadtlagen leisten kann, wird sie nicht unbedingt mit Möbeln von Ikea einrichten. Angesichts aktueller Mietpreisentwicklungen kann einem diese Suche nach diesen kleinen, praktikablen Lösungen – in den Flur passt doch auch noch ein Kleiderschrank! – auch überhaupt auf die Nerven gehen. Die Sommer werden heißer werden, die Städte werden enger werden; man stellt eh schon auf Stress ein.

Wobei, lieber Ikea als das, was in vielen Metropolen real in den Innenstädten passiert. Wenn nur noch Reiche sich urbanes Wohnen leisten können, entvölkern sich vielerorts die Zentren. Da ist so ein quirliges, zusammenrückendes Eneby-Pax-Säbövik-Komplement-Billy-Malm-Klippan-Durcheinander noch um einiges attraktiver.

Dirk Knipphals