Vom Glück der Geschmacks-Surprise: Unbekannt am Schleimhautrand

Wir meinen zu wissen, wie die Dinge schmecken. Doch manchmal kommt es anders. Besser! Eine Reise ins kulinarische Unterbewusstsein.

Mehrere Berliner, auch Pfannkuchen genannt, liegen auf einem Teller, zwei sind mit Dekospießchen versehen

Manchmal ist Senf im Berliner. Der Jackpot aber wäre Rosenkohl! Foto: imago images / Rüdiger Wölk

Das Übliche: „Schmeckt nach Mango!“ – „Wär ja auch schlecht, wenn nicht.“ – „Wie?“ – „Na, wenn es nicht nach Mango schmecken würde. Da ist doch schließlich Mango drin!“ – „Was sagst du da?“ – „Na, wär doch schlecht, wenn das jetzt nach Topinambur schmecken würde, obwohl da Mango drin ist.“ – „Ja. Das stimmt wohl.“

Gespräche dieser Art begleiten mich seit frühester Kindheit besonders beim Essen­gehen. Schließlich ist Essengehen für die meisten Menschen die Gelegenheit, mit Zutaten und Zubereitungsweisen in Berührung zu kommen, die sie sonst nicht kennen oder verwenden, weil sie sich für gewöhnlich lieber nach Schema F (wie Fressen) zu sättigen pflegen.

Der allgemeine Trend hin zur Kontrolle und zur Kontrolle der Kontrolle hat die Lebensmittelbranche als eine der ersten erfasst. Nahrungsproduktion (zum Glück) und Nahrungskonsumtion (zum größten Bedauern) sind die am stärksten geregelten, die erwartbarsten Lebensbereiche der Gegenwart.

In dieser Welt der Langeweile, in der jeder alles kennt, beglückt es schon, wenn ein Essen mal besonders gut oder wenigstens besonders schlecht schmeckt, denn dann hat man was erlebt. Am besten aber: wenn es anders schmeckt als das Bekannte. Überraschend. Das suchen viele genau beim Essengehen, beim Hey-mal-was-Neues, das zuverlässig von der Leier des Ach-ist-ja-so-ähnlich-wie-das-da-neulich geschluckt zu werden droht.

Um diese gewünschte Überraschung geht es mir allerdings nur am Rande. Mich interessiert vielmehr die ungewünschte, echte: die Überraschung, mit der man nicht rechnet. Nur scheinbar eine Tautologie, in Wahrheit undenkbar. Der Augenblick, in dem sich aus dem vermeintlich Altbekannten das Innerste stülpt und in einem wohligen Schreck explodiert. Nur: Wie erreiche ich ihn, wenn ich schon nicht Essengehen gehe? Wo finde ich so was im Alltag?

Wodkamilch in der Müslischüssel

Denkbar sind Partyscherze: Wodka in der Milch und das böse Erwachen am nächsten Morgen über der Müslischüssel. Oder: das erste Mal Orangensaft und Zahnpasta zusammen. Ich lebe für solche Momente, ich zehre von ihnen, selbst wenn sich derartige Gelegenheiten nur alle paar Schaltjahre bieten. Denn es ist das alte Problem der abendländischen Philosophie. Wie kann ich eine wirkliche Negation denken? Einen Genuss, frei von Kontrolle? Ein radikal Anderes.

Zurück zu Schema F also: Fressen und Gefressenwerden. Dort fühlt man sich am sichersten – ist also auch für Überraschung am anfälligsten. Jeder hat eigene Mittel, um dieses Schema zu füllen, um über den Tag zu kommen. Krawallgesicht Žižek gestand neulich in der FAS, am liebsten Dosensuppe mit Würstchen zu futtern, noch über dem Kochtopf, als der ideal-zeiteffizienten Energiepampenverschlingung irdisch am nahsten kommenden Nährstoffverkörperung.

Bei mir sind es Nudeln mit Soße. So wie ich immerzu dieselben Lieder höre und immerzu dieselben Wege durchs dystopisch-cleane Frankfurt am Main schreite, esse ich immerzu Nudeln. Dabei versuche ich allerdings, jeweils denjenigen der billigen Standard-Pfade zu beschreiten, der gerade am unausgetretensten ist. Spaghetti fallen (außer bei Gruppenzwang) schon mal raus. Bleiben – für 39 Cent im Supermarkt, das ist die Bedingung bei Frankfurter Mieten – Fusilli und Penne, im Rewe zusätzlich „Gemelli“, auch wenn ich das für eine Erfindung zur Simulation von Produktvielfalt halte, aber andererseits, was ist schon keine Erfindung?

Geleeartig rasender Stillstand

Bei den Soßen gibt es im Ultralow-Preissegment (79 Cent pro Glas) „Napoli“, „Basilikum“ und „Arrabbiata“, neulich auch mal „gegrilltes Gemüse“, heruntergesetzt, das scheint wohl ein (übersättigter?) Trend zu sein. Der ewige Pesto-Kampf „rot“ gegen „grün“ soll mit zäher Macht durch Zutaten wie Paprika, Mascarpone, Zucchini, bald vielleicht noch Eiersalat diversifiziert werden, aber da sind wir ja schon bei den edleren Marken und bei über einem Euro pro Soße und es ist, wie gesagt, Frankfurt und nicht Unna. Dort, also in Unna, könnte man kulinarische Verwirrungen und Köstlichkeiten Tag für Tag für wenig Geld erwerben, und man schwebte unter und über die Welt, dass es seine himmlische Art hätte; doch lebt man realiter, wie zum wiederholten Male gesagt, in Frankfurt, und muss sich also mit den kleinen messianischen Verschiebungsmomenten zufriedengeben, die sich im geleeartig rasenden Stillstand auftun oder nicht auftun.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Auch in dieser Hinsicht hat mich die Kombination Nudel plus Soße nicht im Stich gelassen. Neulich hatte ich mir – statt wie immer „Napoli“ – aus Unachtsamkeit „Arrabbiata“ gekauft und erhitzt und gegessen und, nun ja, es war fabelhaft. Meine Nüstern haben gebrannt, da musste beinahe die Feuerwehr kommen. Alles war rot und scharf, gleichzeitig dieser angenehme Geschmack von alter Schrankschublade. Wichtiger, als dass „Arrabbiata“ kam, war dabei, dass ich „Napoli“ erwartet hatte. So etwas kann man nicht planen. Aber es passiert. Man muss sich treiben lassen.

An der Schwelle zwischen geplanter und ungeplanter Essensüberraschung befindet sich ein von mir „Synergie der vergessenen Reste mit über diese Reste hinausgehenden Effekten“ getauftes Konzept. Die Süß-salzig-Spirale ist ja schon etwas länger vom System annektiert und salziges Karamell auch in Deutschland der Knüller, also erwartbar. Wenn man jedoch Kekse isst, ihr Geschmack nach einiger Zeit aus dem Bewusstsein verflogen ist, sich gleichwohl noch ausreichend viele Kekspartikel in der Mundhöhle befinden und man sich nun unvermittelt und nichtsahnend Oliven reinstopft, ist das verschlungener als jeder schöne Traum.

Vergessene Reste, ein Hauch von vorhin

In der Rührschüssel Mund ergeben sich die dollsten Kombinationen. Ratatouille und Buttercreme. Lachs und Lebkuchen. Wassermelone und Anchovis (damit kann man Taufbecken veröden). Der Trick ist, dass es Reste sein müssen, vergessene Reste, ein Hauch von vorhin. Sonst gerät man, ohne vorher „Kochtopfbrand“ sagen zu können, zack, in den Überbietungswettbewerb jener Ekelvermischer des Gewöhnlichsten, die in jeder größeren Runde vor allem junger Menschen plötzlich aufhorchen lassen.

Im Mund geht’s doll zu: Buttercreme und Ratatouille. Lachs und Lebkuchen. Damit kann man Taufbecken veröden

„Ich esse gerne Nutella mit Salami, voll lecker“, heißt es dann, oder „Käse mit Marmelade“, „gezuckerte Paprika“, „Fleischwurst mit Magerquark“. Ein bisschen so wie die um erwartete Erschreckung buhlenden Erzählungen rekordverdächtiger Wohnungsmieten in A+-Metropolen, die Max Goldt in einem Text, dessen Titel mir leider im Moment nicht mehr einfällt, anführt, womit wir wieder bei meinen Strategien der Alltagsverpfadung angelangt wären.

Ich bezahle übrigens 8.000 Euro im Monat, und wenn die Miete noch teurer wird, was ich insgeheim begehre, werde ich den ganzen Tag nur noch eingelegte Salzgurken essen. In jedem zweimillionsten Glas schwimmt eine, die nach Vanillepudding schmeckt. Man braucht nur Geduld.

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