Medienkritikerin Samira El Ouassil: Stimme der reinen Vernunft

Mit scharfer Analytik kritisiert Samira El Ouassil den Journalismus. Und wie reagiert die Branche? Die liebt sie trotzdem noch.

Porträtaufnahme der Medienkritikerin Samira El Ouassil vor einer mit Zeitungen tapezierten Wand.

Samira El Ouassil nennt sich selbst die „Cheerleaderin der Medienwelt“ Foto: Quirin Leppert

Samira El Ouassil hat ein Hasswort, es heißt „Klartext“. Sie hat aber auch ein Lieblingswort. Es ist ein wenig sperriger und lautet: „Ambiguitätstoleranz“. Und wenn man wissen möchte, was ihrer Ansicht nach derzeit schiefläuft im Journalismus, dann sind diese beiden Begriffe schon mal ein guter Anfang.

El Ouassil ist Medienkritikerin ­­– jedenfalls neben vielen anderen Dingen auch. Seit knapp einem Jahr schreibt sie eine wöchentliche Kolumne für Übermedien. Ein Onlineportal, das für den Grimme-Preis nominiert wurde und über das es einmal hieß, es sei das Medienressort, das sich die etablierten Häuser nicht mehr leisten könnten. Oder sich womöglich auch nicht mehr leisten wollten.

Medienjournalist*innen gelten hinter vorgehaltener Hand als „Nestbeschmutzer“, der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Branche wird gerne das abwertende Etikett „Kollegenschelte“ verpasst.

El Ouassils Texte aber liest die Branche aufmerksam, geradezu erleichtert. Beinahe so, als würde hier endlich mal jemand Ordnung in dieses ganze Schlamassel aus widersprüchlichen Handlungsmaximen bringen, in dem sich der Journalismus spätestens seit Migrationsdebatte und AfD wähnt.

Was macht die 33-Jährige, die ein Kollege jüngst als „intellektuelle Influencerin mit Kultstatus“ bezeichnete, bloß anders?

Fetisch eines Porträtjournalisten

Wer das herausfinden will, wird unweigerlich zum Teilnehmer in einem kleinen journalistischen Metaexperiment. Schuld daran ist ihr Text „Porträt eines Porträt-Journalisten“. Es geht darin um Reporter in Cafés, denen kein Klischee zu peinlich ist. Man könnte auch sagen: Es geht um den Bedeutsamkeitsfetisch des modernen Journalismus.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Und jetzt sitzt man also selbst El Ouassil im Café gegenüber und versucht tapfer, nicht in diese Klischee-Falle zu tappen. Man würde lügen, würde man nicht zugeben: Es ist nicht leicht.

Dabei muss man sich ja bloß einmal den Lebenslauf der Münchnerin anschauen. Schauspielerin im seichten Vorabendprogramm („Sturm der Liebe“), Kanzlerkandidatin der Satiriker von „Die Partei“ („Es muss ein Rock durch Deutschland gehen“), Kommunikationswissenschaftlerin, Mitglied beim Hochbegabten-Verein Mensa, politische Ghostwriterin.

Wer hier eine geordnete Erzählung finden will, ist immer nur ein willkürliches Gegensatzpaar vom Klischee entfernt. El Ouassil sagt: „Das fällt mir eigentlich erst auf, wenn du das jetzt so aufzählst.“

Die fatale Macht von Symbolbildern

Durch diese Wolke des selbstironischen Understatements blickt man bei ihr nie ganz durch. Dabei weiß sie natürlich ganz genau um das Dilemma ihres Gegenübers. Wie soll man sich als Journalist*in überhaupt noch einer Person annähern, wenn hinter jeder Interpretation der vorhergesagte küchenpsychologische Abgrund lauern könnte?

El Ouassil lächelt über solche Bemühungen einfach hinweg – und liefert einem während des Gesprächs dann doch noch eine Selbstbeschreibung, die wirkt, als habe sie ihre Funktion im späteren Text gleich mit gedacht: „Cheerleaderin der Medienwelt“. Was zwar lustig klingt, aber angesichts der Akribie und der analytischen Kraft, mit der El Ouassil ihre Themen bearbeitet, dann doch maßlos untertrieben ist.

In ihrer Kolumne „Wochenschau“ schreibt sie über die fatale Macht von Symbolbildern, die Risiken falsch verstandener Ausgewogenheit oder eben den Zwang von Porträtjournalisten, jeder profanen Alltäglichkeit tiefe Bedeutung verschaffen zu wollen. El Ouassil will Strukturen offenlegen, Wirkzusammenhänge erläutern. Der hämische Fingerzeig auf einzelne Personen ist überhaupt nicht ihr Ding.

„Viele verstehen doch gar nicht, was Journalist*innen machen. Das ist der Grund für ihr Misstrauen“

Heraus kommen dabei meist lange, bewundernswert kluge Texte, voll mit Verweisen auf Me­dien­­theo­re­ti­ke­r*innen und Philo­so­ph*in­nen. Übermedien-Mitbegründer Stefan Niggemeier erzählt über sie, manchmal komme mitten in der Nacht vor dem Abgabetermin noch eine Mail: „Wird später, ich muss nochmal in die Bibliothek und diese eine Studie nachschlagen.“ Sie versuche ja letztlich nur ein Problem aufzudröseln, sagt sie selbst.

Vielleicht ist es genau das, was sie zu dieser besonderen Stimme der deutschen Medienlandschaft macht. Diese Lust am „Aufdröseln“, an der auch mal ausschweifenden Analyse, an der mühsamen Differenzierung. Als einmal ein Twitter-Streit zwischen der Stand­up­pe­rin Enissa Amani und der Journalistin Anja Rützel in heftige Rassismusvorwürfe mündet, identifiziert El Ouassil einen „diskursiven Clusterfuck“, nur um anschließend in einem 20.000-Zeichen-Essay drei grundlegende miteinander kollidierende Diskursebenen freizulegen. Ein Shitstorm mit Mehrwert.

Einsam und isoliert

„Ich mache keine Meinungskolumnen, sondern abwägende Texte“, sagt El Ouassil. Und schaut man sich die vielen dankbaren Reaktionen auf ihre Texte an, scheint genau das Leser*innen in den meisten Medien zu fehlen.

Aber kann man wirklich derart aus reiner Vernunft bestehen? El Ouassil wirkt wie ein lebendiges Abbild ihrer Texte. Nicht nur, weil sie selbst am Café-Tisch über komplexeste Dinge so gestochen scharf sprechen kann, wie sie auch schreibt. Sondern weil sie ständig in einem Modus der prüfenden Analyse unterwegs zu sein scheint.

Tatsächlich, erzählt sie, habe ihre Art zu denken und zu reden sie an der Uni isoliert. Sehr einsam habe sie sich oft gefühlt – oder wie sie es in Anlehnung an eine Theorie des Soziologen Harmut Rosa nennt: Sie habe keine Resonanz gespürt. Erst später an der Schauspielschule habe sie dann gelernt, Gefühle wirklich auszuhalten – Herzensbildung für einen Kopfmenschen.

Ausgeruhte Fehlerkultur

Es ist einer der ganz wenigen Momente, in denen einem El Ouassil einen kurzen Blick auf mögliche biografische Schlüsselmomente gewährt. Also auf das, was der von ihr beschriebene Porträtjournalist in einem alchemistischen Akt dann in Bedeutsamkeit verwandelt.

Warum jetzt aber Medienkritik? Da sei sie ganz idealistisch, sagt El Ouassil. Der Journalismus sei schließlich ein sinnstiftendes Element der Gesellschaft. „Viele Menschen verstehen doch gar nicht, was Journalist*innen eigentlich so machen. Und das ist auch der Grund für ihr Misstrauen.“ Deshalb brauche es vor allem mehr Transparenz und eine offene Fehlerkultur.

Womit man wieder bei „Klartext“ und „Ambiguitätstoleranz“ wäre. Auf der einen Seite ein Kampfbegriff, der Vorurteile als heroische Wahrheitsverkündungen verkauft. Auf der anderen Seite die mühsame Fähigkeit, bei der täglichen Auseinandersetzung mit der Realität auch Widersprüchlichkeiten und Uneindeutigkeiten auszuhalten. Das sei es, was der Journalismus heute mehr als alles andere brauche, sagt El Ouassil.

El Ouassil weiß sehr gut, wovon sie spricht. Während der aufgeladenen Migrationsdebatte bombardierten sie rechte Trolle in den sozialen Netzwerken mit Hassbotschaften. So wurde El Ouassil selbst zur Zielscheibe. „Ich habe keine identitätspolitische Agenda, aber Identitätspolitik macht mich natürlich zum Thema“, sagt sie.

Journalistische Selbstreflexion

El Ouassil thematisiert das auf ihre ganz eigene Art. An einem Augustabend steht sie in einem Saal des Potsdamer Museums Barberini. Das medienkritische Projekt „Floskelwolke“ feiert Geburtstag, El Ouassil soll einen Impulsvortrag halten. „Mein Name ist Samira El Ouassil“, begrüßt sie die Kolleg*innen. „Ich hoffe, ich habe das jetzt richtig ausgesprochen.“

Ein paar Wochen später, im Café, stoppt man schließlich die Aufnahme und fragt sich, ob sie mit ihrem Text über den Porträtjournalisten recht behalten wird. Ob man also bloß „eine nachdenkliche Mischung aus den vermuteten Vorurteilen der Leser, gemischt mit ein paar Interpretationen, welche diese Erwartungen brechen“, schreiben wird.

Und dann beginnt man plötzlich zu verstehen, dass Samira El Ouassil damit ihr Ziel bereits erreicht hat. Wo Reporter*innen beginnen, auch über die eigene Unzulänglichkeit nachzudenken, fängt besserer Journalismus an. Und mehr will sie eigentlich ja gar nicht.

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