Zwangsarbeiter-Keller in Kreuzberg: Unter der Last der Geschichte

In den Kellern der früheren Kreuzberger Bockbrauerei schufteten NS-Zwangsarbeiter. Ein Investor will Teile des Denkmals für seine Baupläne opfern.

Im ehemaligen Gärkeller war ein Teil er Röhren-Fertigungsstrecke untergebracht Foto: Wolfgang Bittner

Sehen Sie das?“ Karin Dittmar zeigt auf ein Fenster in der gemauerten, beige und rostrot getünchten Wand, durch das man mit einem ausladenden Schritt bequem einsteigen könnte: „Es liegt auf Fußhöhe, weil wir hier draußen auf der sogenannten Zerschelldecke stehen. Eine zwei Meter dicke Betonschicht wurde in diesem Hof gegossen, um die Fabrik im Untergrund gegen Bombentreffer zu sichern.“

Wer die einstige Bockbrauerei in der Kreuzberger Fidicinstraße ohne Vorkenntnisse betritt, ahnt nichts von der geschichtlichen Last, die auf dem Gelände liegt – oder, genauer genommen, darunter. Von der ab Mitte des 19. Jahrhunderts errichteten Schultheiss-Brauerei, die hier bis 1920 Starkbier nach Münchner Rezept herstellte, ist noch ein altes, zweigeschossiges Gebäude mit Backsteinzinnen erhalten – das sogenannte Schwankhaus – sowie zwei gemauerte Schornsteine. Und dann ist da noch das, was sich den Blicken entzieht und umso interessanter ist: die Kellergewölbe.

Dittmar kam in den 80ern nach Berlin, sie lebt schon lange im Kreuzberger Chamissokiez. Die Sozialwissenschaftlerin gehört zur 2016 gegründeten Initiative „Denkmalschutz für die Bockbrauerei!“. An diesem Tag Ende August ist sie mit einem Mitstreiter in die Fidicinstraße gekommen. Aus einem dicken Ordner voller Kopien, gespickt mit handschriftlichen Anmerkungen und Lesezeichen, ziehen die beiden Fotos, die lange Tonnengewölbe und düstere Hallen zeigen: Aufnahmen der rund 5.000 Quadratmeter großen Brauereikeller, in die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs eine geheime Produktionsstätte der Firma Telefunken einzog, Tarnname „Lore 2“.

„Unterirdische Verlagerung“ wurden solche Orte genannt, in denen die NS-Regierung dringend benötigten Nachschub an Rüstungsgütern verborgen vor den alliierten Fliegern produzieren ließ. In diesem Fall waren es elektronische Röhren für Flakzielgeräte, möglicherweise auch für das Raketenprogramm, mit dem die sogenannten „V2“ gebaut wurde, die vermeintliche „Wunderwaffe“ der Nazis. Niemand arbeitete freiwillig hier: ZwangsarbeiterInnen, zumeist aus Osteuropa, wurden an den Werkbänken eingesetzt – und für den Bau der aufwendigen Verbunkerung der Anlage auch KZ-Häftlinge aus dem Lager Sachsenhausen.

Am Wochenende können beim 27. Tag des offenen Denkmals über 350 Bau-, Boden- und Gartendenkmäler erkundet werden. In Anlehnung an das Bauhaus-Jubiläum lautet das Motto: „Moderne. Modern. Berlin“. Erstmals dabei: das Gropiushaus in der Gropiusstadt und das Umspannwerk Humboldt in Prenzlauer Berg.

Die Bockbrauerei fehlt im Programm, aber in der Umgebung können viele historische Gebäude besichtigt werden: das von Max Taut in den 1920ern entworfene Verbandshaus der Deutschen Buchdrucker in der Dudenstraße, das Leibniz-Gymnasium am Marheinekeplatz mit seinem Aussichtsturm oder die Dragonerkaserne am Mehringdamm. Am Columbiadamm gibt es eine Führung zu einem nicht mehr vorhandenen Ort: dem einzigen Berliner KZ „Columbia“, das bis 1936 bestand.

berlin.de/landesdenkmalamt/veranstaltungen/tag-des-offenen-denkmals/2019/ (clp)

„Die Gefangenen mussten unter Bewachung durch ein SS-Kommando die riesigen Gärbottiche und Fässer durch die engen Treppenaufgänge auf den Hof wuchten“, beschreibt Dittmar. Durch die „Zerschelldecke“ seien dann die Kellergewölbe zu einem regelrechten „unterirdischen Sarkophag“ geworden, in dem die ZwangsarbeiterInnen schuften mussten. Sie zeigt einen Plan von 1944 für den großen Gärkeller, der wie viele andere Dokumente im Archiv des Deutschen Technikmuseums erhalten geblieben ist: „Kaltwalzwerk“ ist auf der Blaupause zu lesen, „AEG-Ofen“ oder „Zwischenglühöfen f. Bleche“. „Die Hitze da unten war extrem, die Belüftung mangelhaft“, sagt Dittmar, „absolut menschenverachtende Bedingungen.“

Über 20 Räume erhalten

Im vergangenen Jahr hat ein Denkmalschutzexperte ein „Denkmalpflegerisches Raumbuch“ zur ehemaligen Bockbrauerei angelegt – ein über 200 Seiten langes Dokument, das alle Kellerräume, alle Gänge und Treppen, alle Spuren früherer Einrichtungen akribisch beschreibt und auf Fotos zeigt. Über 20 große und kleine Räume gehörten zu „Lore 2“, weitere vorhandene Keller – darunter die ältesten aus dem Jahr 1840 – werden nicht abgebildet, weil sie nicht denkmalgeschützt sind. Fast alle Räume stehen leer, außer von Schimmel überwucherten Mauern und einigen rostigen Installationen ist wenig zu sehen.

Entsprechend heißt es im Begleittext, es sei angesichts des gegenwärtigen Zustands „schwer vorstellbar, dass hier eine veritable Fertigungsstätte – zumal noch eine für feinmechanische Arbeiten – betrieben wurde“.

Lage der alten Bockbrauerei im Kreuzberg Foto: Infotext / Stefanie Weber

Die Experten ziehen nicht in Zweifel, dass in den Kellern unweit des Tempelhofer Flughafens Zwangsarbeit für Telefunken geleistet wurde. Sie geben nur zu bedenken, dass in den erhaltenen Akten auf „Engpässe bei Baumaterial und Arbeiterkapazitäten“ verwiesen werde, sodass „grundsätzlich die Frage zu stellen ist, was von der Fabrik in welchem Umfang noch 1944 vollendet werden konnte“. In einem Schreiben, das vom 9. Oktober 1944 datiert, also ein halbes Jahr vor der Schlacht um Berlin, sei der Fertigstellungsgrad erst mit 50 Prozent angegeben worden.

Auch wenn nicht völlig klar ist (und es vielleicht nie sein wird), wie viele Menschen tief unter der ehemaligen Bockbrauerei zur Arbeit gezwungen wurden oder welche konkreten Bauteile sie herstellten: „Lore 2“ ist laut Berliner Landesdenkmalamt „die am besten erhaltene unterirdische Verlagerung in Berlin“ – und für die Bürgerinitiative steht fest, dass sie vollständig erhalten bleiben muss.

„Jeder der Fertigungskeller ist ein authentisches Zeitzeugnis“, sagt Karin Dittmar. Immer wieder betont sie die Authentizität, die die Anlage in Berlin so einzigartig mache: „Die Räume wurden nach dem Krieg geleert und hauptsächlich zur Lagerung von Wein genutzt. Baulich wurde nach 1945 bis auf Kleinigkeiten nichts verändert.“

Aber der komplette Erhalt der einstigen Zwangsarbeiterfabrik ist gefährdet, und damit hat auch zu tun, dass man derzeit auf Bildmaterial angewiesen ist, wenn man die Keller kennenlernen will: Der Eigentümer des Geländes, die am Ku’damm residierende Bauwert AG – Motto: „Wir machen Bauwerke zu Bauwerten“ –, will hier hochpreisige Wohnungen und Gewerbeflächen errichten und würde aus Kostengründen am liebsten die meisten Kellergewölbe zuschütten. Für Karin Dittmar ist klar, dass der Investor die Aufmerksamkeit für das im Boden verborgene Denkmal nicht zu groß werden lassen möchte, darum erlaube er niemandem, aus historischem Interesse hinabzusteigen.

Pläne für „X-Berg Loggia“

Die Bauwert, die zuletzt unrühmliche Bekanntheit erlangte, weil ihr Neubauprojekt auf dem Friedrichswerder in Mitte schwere statische Schäden an der benachbarten Schinkel-Kirche verursachte, erwarb die ehemalige Bockbrauerei im Jahr 2015 und plante eine Bebauung mit Luxuswohnungen und Tiefgaragen. Eine ältere Visualisierung des Vorhabens zeigt weiße Kuben mit viel Glas und der Aufschrift „X-Berg Loggia“.

Außer dem Schwankhaus sollten lediglich drei Kellergewölbe erhalten bleiben, die für etwas Lokalkolorit sichtbar gemacht worden wären. In Reaktion darauf formierte sich die Bürgerinitiative, auch um den damals noch lebendigen Gewerbestandort auf dem Brauereigelände zu retten.

Das hat nicht funktioniert: Trotz gegenteiliger Versprechen von Bauwert-Vorstand Jürgen Leibfried wurden mittlerweile rund 30 zum Teil langjährigen Mietern die Verträge gekündigt – darunter mehrere Weinhändler, eine Klavierwerkstatt, eine Percussion-Schule und eine Sozialberatungsstelle. Außer der Tanzschule Maxixe und dem Verein Archiv der Jugendkulturen, die in den verbleibenden historischen Gebäudeteilen ansässig sind, herrscht heute gähnende Leere. Die entmieteten Wirtschaftsgebäude sollen abgerissen werden, wenn der Bebauungsplan rechtskräftig ist.

Einen vorläufigen Bescheid hat der Investor schon vom Friedrichshain-Kreuzberger Bauausschuss bekommen. Das war im Mai 2018, nachdem der Bezirk der Bauwert in zähen Verhandlungen eine Mischung aus Gewerbe und Wohnen abgerungen hatte. Teil des Deals, der etwas von der Kreuzberger sozialen Mischung erhalten soll, war der Verkauf einer Geländeecke an die landeseigene Howoge, die dort 50 Apartments für StudentInnen, 30 Wohnungen zu 6,50 Euro Einstiegsmiete sowie eine Kita errichten will.

Das historische „Schwankhaus“, am linken Bildrand ist der Eingangsbunker zu erkennen Foto: Elke Seeger

Für Dittmar von der Bürgerinitiative ist das letztlich ein Trick: „Die Bauwert spielt eine kommunale Wohnungsbaugesellschaft gegen das Landesdenkmalamt aus. Man könnte auch sagen, sie benutzt die Ho­woge als Dampfwalze gegen den Denkmalschutz.“

Grundsätzlich hat die Initiative in Sachen Denkmalschutz einen großen Erfolg erzielt: Ihre Aktionen riefen die Bezirksverordnetenversammlung, das Bezirksamt und schließlich das Landesdenkmalamt auf den Plan. Das stellte im März 2017 alle zur Rüstungsproduktion genutzten Keller unter Schutz – nicht aber die ältesten, entlang der Schwiebusser Straße gelegenen Keller oder den Mälzerei-Schornstein, der im 19. Jahrhundert noch mit quadratischem Grundriss gemauert wurde und auf dem früher Turmfalken nisteten. Der Investor macht jedoch weiterhin Druck, Genehmigungen für den Abriss möglichst vieler unterirdischer Gewölbe zu erhalten. Bis heute dauert das Gezerre hinter den Kulissen an.

Teilabriss „in Aussicht gestellt“

Nachdem durchgesickert war, dass manche Denkmalteile möglicherweise geopfert würden, richtete die grüne Abgeordnete Katrin Schmidberger im Juni auf Anregung der Bürgerinitiative eine parlamentarische Anfrage an die Senatskulturverwaltung, unter deren Dach das Landesdenkmalamt arbeitet. In der Antwort heißt es, eine „endgültige Klärung“ sei noch nicht erfolgt, im Falle zweier Keller habe man aber „in Abwägung mit anderen öffentlichen Belangen, wie der Ermöglichung von Wohnungsbau, der schon vor der denkmalrechtlichen Unterschutzstellung geplant war“, eine Abrissgenehmigung „in Aussicht gestellt“.

Offenbar ebenfalls stark gefährdet ist das als „Keller 1“ bezeichnete Gewölbe an der nordwestlichen Ecke des Grundstücks – der Howoge-Fläche – mitsamt dem darüber errichteten Eingangsbunker zur Rüstungsfabrik. Das Denkmalamt erkennt hier „große Probleme bautechnischer und erschließungstechnischer Art“.

Gegenüber der taz bekräftigt die Behörde, der schon in Aussicht gestellte Abriss zweier Keller stelle „keine zu versagende, erhebliche Beeinträchtigung des Denkmals“ dar. „Insbesondere bleibt der funktionale und räumliche Zusammenhang der Rüstungsfabrik erhalten und erfahrbar.“

Genau das bestreitet die Bürgerinitiative vehement – ebenso wie die Aussage der Denkmalschützer, der „äußerst schlechte Erhaltungszustand“ rechtfertige einen Teilabriss. „Aus der Luft gegriffen“, ist das für Karin Dittmar, es gehe nur um oberflächliche Schäden durch Schimmel und Ablagerungen, die Weinhändler hätten die Räumlichkeiten schließlich auch bis vor kurzem problemlos als Lager verwendet.

Wann tatsächlich die Bagger rollen werden und wie viel denkmalgeschützte Substanz am Ende daran glauben muss, wird sich in den kommenden Wochen und Monaten entscheiden. Völlig ungeklärt ist im Übrigen, wie die selbst im direkten Umfeld noch kaum bekannte Geschichte der Zwangsarbeiterfabrik künftig erfahrbar gemacht werden könnte. Die Bauwert AG, die sich zu Anfragen der taz nicht äußerte, hatte im vergangenen Jahr, als es mit dem Bebauungsplan konkreter wurde, die Stiftung „Topographie des Terrors“ ins Spiel gebracht.

Bauwert-Vorstand Jürgen Leibfried ließ die Presse damals wissen, er habe mit dem Topographie-Chef Andreas Nachama bereits weitgehende Gespräche geführt, zu lesen war in einem Artikel sogar von einer „Vorabstimmung“ darüber, dass die Stiftung die laufenden Kosten einer Gedenkstätte wohl übernehmen werde.

Dass man gerade dann, wenn es um Immobilien, Genehmigungen und viel Geld geht, nicht jeder blumigen Aaltennkündigung glauben darf, zeigt eine Nachfrage beim Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit, das die „Topographie“ in Schöneweide betreibt. „Wir sind immer gerne bereit, unsere Erfahrung bei der Erarbeitung von Konzepten einzubringen“, sagt Leiterin Christine Glauning der taz, so habe man es auch bei dem zum Gedenkort umgewandelten SA-Gefängnis Papestraße getan, der vom Bezirk Tempelhof-Schöneberg betrieben wird. Ein Konzept für die Keller der Bock­brauerei gebe es nicht – und die laufenden Kosten könne und werde die Stiftung nicht übernehmen.

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