Anhaltender Schrumpf­kurs

Wenn in knapp zwei Wochen die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Verdi zu ihrem 5. Bundeskongress in Leipzig zusammenkommt, steht eine Wachablösung an. Nach mehr als 18 Jahren an der Spitze nimmt Frank Bsirske seinen Abschied. An die Stelle des dienstältesten deutschen Gewerkschaftschefs soll sein bisheriger Stellvertreter Frank Werneke treten.

Seit der Gründung von Verdi – also seit der Fusion der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), der Deutschen Postgewerkschaft (DPG), der IG Medien sowie der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) im März 2001 – führt der Niedersachse die Multibranchenorganisation an. Angehörige von mehr als tausend Berufen organisiert Verdi – von der Straßenbahnfahrerin über die Bankangestellte bis zum Krankenpfleger.

Mit dem Zusammenschluss verbunden war 2001 die Hoffnung, die Erosion gewerkschaftlicher Organisierung stoppen zu können. Das ist nicht gelungen. Bei ihrer Gründung verzeichnete Verdi noch mehr als 2,8 Millionen Mitglieder und bezeichnete sich stolz als die größte Gewerkschaft Europas. Heute sind es nur noch um die 1,9 Millionen, fast ein Drittel weniger. Größte DGB-Gewerkschaft ist inzwischen die IG Metall – weil deren Aderlass geringer war.

Frank Werneke weiß, welch schweres Erbe er antritt. Wie Bsirske gehört der Ostwestfale seit Gründung dem Verdi-Bundesvorstand an. Der rhetorisch eher blasse Werneke verkörpert den Typus des technokratischen Gewerkschaftsfunktionärs, mehr Manager denn Arbeiterführer. Klassenkämpferische Attitüden sind ihm fremd. Im Gegensatz zu Bsirske, der sich gerne auch mal bärbeißig gab und mitunter kräftig austeilen konnte, pflegt er den unverbindlich freundlichen Ton. Begeisterungsstürme lösen seine Auftritte selten aus.

Die Wahl des gelernten Verpackungsmittelmechanikers zum neuen Verdi-Chef dürfte nicht mehr als eine Formsache sein. Bereits vor einem Jahr hatte eine innerverbandliche Findungskommission den 52-jährigen Sozialdemokraten als Nachfolger für den 67-jährigen Grünen auserkoren. Einen Gegenkandidaten gibt es nicht. Ein Wahlergebnis unter 90 Prozent gilt als unwahrscheinlich.

Wie die Sozialdemokratie steckt auch die Gewerkschaftsbewegung in einer tiefen Krise – und das gilt nicht nur für Verdi. 1990 gehörten noch mehr als 11 Millionen Menschen einer DGB-Gewerkschaft an, mittlerweile verzeichnet der Dachverband weniger als 6 Millionen Mitglieder – und das bei steigenden Beschäftigtenzahlen.

Ähnliches gilt für die Tarifbindung: 2001 war das Arbeitsverhältnis von 71 Prozent der Beschäftigten im Westen und 56 Prozent der Beschäftigten im Osten durch einen Tarifvertrag geregelt. 2018 galt das nur noch für 56 Prozent im Westen und 45 Prozent im Osten. Die Folgen sind gravierend. Denn Beschäftigte in einem nichttarifgebundenen Betrieb verdienen im Mittel fast 15 Prozent weniger.

Dabei täuschen die Zahlen. Denn sie beinhalten auch den öffentlichen Dienst, der sich durchweg in der Tarifbindung befindet – und in der der Organisationsgrad Verdis nach wie vor hoch ist. In der Privatwirtschaft sieht es weitaus schlechter aus. „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“ – jene alte Losung der Arbeiterbewegung gilt vielerorts längst nicht mehr. Pascal Beucker