Wahlforscher zu Ostwahlen: „Grüne sind der Antipode zur AfD“

Endet der Grünen-Höhenflug bald? Nein, glaubt der Wahlforscher Matthias Jung. Die Ökopartei werde als modern und bürgerlich wahrgenommen.

Annalena Baerbock und Robert Habeck und Blumen

Die Grünen werden sich auf einem „signifikant höheren“ Niveau stabilisieren, sagt Wahlforscher Jung Foto: ap/Markus Schreiber

taz: Herr Jung, ist Ostdeutschland ein Versuchslabor für Verhältnisse, die uns auch im Westen drohen?

Matthias Jung: Versuchslabor wäre mir zu zugespitzt. Es gibt nach wie vor valide Unterschiede zwischen Ost und West. In ostdeutschen Bundesländern existieren nicht so feste, ideologisch geprägte Parteibindungen, wie es sie in Westdeutschland gab und noch gibt. WählerInnen verhalten sich volatiler, unberechenbarer und auch taktischer.

Die Zeiten fester Parteibindungen sind doch auch in Westdeutschland vorbei.

Den Trend gibt es, ja. Auflösungstendenzen beobachten wir zunehmend auch in Westdeutschland. Milieus, die früher klar einer Partei zuzuordnen waren, bröckeln. Die katholisch geprägte CDU/CSU leidet darunter, dass die Kirchen weniger Bindekraft haben. Auch die Arbeiterbewegung, die hinter der SPD stand, bewegt ja heute keine Massen mehr.

Alle Parteien fragen sich, was sie gegen den Erfolg der AfD tun können. Was raten Sie?

Was jedenfalls nicht hilft, ist Themen hochzuziehen, die die AfD stark machen. Die CSU hat im vergangenen Sommer viel über Flüchtlingspolitik geredet, obwohl kaum noch Flüchtlinge kamen. Mitten im bayerischen Landtagswahlkampf ist bei ihr der Groschen gefallen, dass das nur bei der AfD einzahlt – inzwischen ergrünt die CSU unter Markus Söder. Der ehemalige CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer hat im Bundestagwahlkampf 2017 versucht, sich als Speerspitze der Antifa zu profilieren, obwohl die AfD in einem Tief verschwunden war. Prompt kam sie wieder. Damit und mit Seehofers Dauerkritik an Merkels Flüchtlingspolitik wurde einer schwarz-grünen Mehrheit das Genick gebrochen.

Matthias Jung, Chef der Forschungsgruppe Wahlen

„Nicht alles, was AfD-WählerInnen stört, ist fiktional, sie haben teils berechtigte Sorgen. Die Parteien müssen allgemeine Zukunftsängste und vor allem die Furcht, abgehängt zu werden, ernst nehmen und mit Konzepten kontern“

Also geht es vor allem um kluge Kommunikation?

Die schadet natürlich nie, aber wichtig ist es, zu handeln. Nicht alles, was AfD-WählerInnen stört, ist fiktional, sie haben teils berechtigte Sorgen. Die Parteien müssen allgemeine Zukunftsängste und vor allem die Furcht, abgehängt zu werden, ernst nehmen und mit Konzepten kontern. Das ist in Sachsen und Brandenburg nicht ausreichend gelungen. Taten helfen mehr, als alle AfD-WählerInnen als Unmenschen zu klassifizieren.

Jahrgang 1956, ist Chef der Forschungsgruppe Wahlen und verantwortlich für das ZDF-Politbarometer. Jung gilt als Ideengeber von Angela Merkels Neuausrichtung der CDU.

Die Linkspartei hat in Sachsen und Brandenburg viele WählerInnen an die Konkurrenz verloren. Verliert sie ihren Status als Ostversteher-Partei?

Die Linke hatte stets eine doppelte Grundlage für Wahlerfolge in Ostdeutschland. Es gab Altkader, die früher SED wählten – und die Linke stützten. Sie sterben langsam aber sicher weg. Außerdem war die Linke eine Protestpartei. Sie sammelte all jene hinter sich, die sich als Verlierer der Wiedervereinigung oder der Globalisierung verstanden. Da hat sie jetzt gerade im Osten starke Konkurrenz durch die AfD. Hinzu kommt, dass die Linke momentan nicht gerade geschlossen oder inhaltlich konsistent auftritt.

Die Grünen legten in beiden Ländern zu, aber weniger als erwartet. Ist ihr Höhenflug ein Hype, der bald endet?

Die Grünen werden sich auf einem signifikant höheren Niveau als bei der letzten Bundestagswahl stabilisieren. Sie sind – in Lagerkategorien gedacht – der Antipode zur AfD, weil sie für eine ganz andere Werteorientierung stehen, von der Homoehe, über den Klimaschutz bis zur Flüchtlingspolitik. Gleichzeitig vermeiden sie schrille Töne, zielen also stärker als früher auf die Mitte. Das ist klug. Dort hat die CDU durch die interne Kritik an Angela Merkel Räume freigegeben. Die Grünen werden inzwischen von vielen als die moderne bürgerliche Partei wahrgenommen.

In Brandenburg und Sachsen sind die Grünen ein städtisches Phänomen. Sie blieben in abgelegenen Regionen schwach.

Das stimmt. Aber die Auswirkung dieser zwei Wahlen auf das gesamtdeutsche System wird überschätzt. Da haben 5,8 Millionen Menschen gewählt – angesichts von 65 Millionen Wahlberechtigten in ganz Deutschland. Den Grünen hilft natürlich auch, dass der Klimawandel für jeden spürbar wird. Ihre Konzepte klingen nach gesundem Menschenverstand, das macht sie glaubwürdig.

Stimmt es eigentlich, dass die Grünen der Gegenpol zur AfD sind? In Sachsen avancierte ja CDU-Mann Michael Kretschmer zum liberalen Gegenspieler.

Es gibt einen Unterschied zwischen strategischer Polarisierung in einem Wahlkampf – und inhaltlicher Ausrichtung. Natürlich kann ein angesehener Ministerpräsident signalisieren: Versammelt euch hinter mich, wenn ihr die AfD stoppen wollt. Das ist Kretschmer in Sachsen taktisch geglückt. Aber die Grünen vertreten von allen Parteien inhaltlich die Positionen, die sich am wenigstens mit denen der AfD vertragen. Leute wie Hans-Georg Maaßen sagen ja explizit, dass eine Koalition mit den Grünen für die CDU schlimmer sei als ein Bündnis mit der AfD.

Sowohl in der CDU als auch in der SPD ist eine Sehnsucht nach klarerem Profil spürbar. Die einen hadern mit Merkel, die anderen setzen auf linke Konzepte wie eine Vermögensteuer. Ist die Zeit der Mitteorientierung der Parteien vorbei?

Das glaube ich nicht. Der Kampf um die Mitte bleibt entscheidend für strategische Mehrheitsfähigkeit. Wer in der Mitte gewinnt, kann die eigenen Konzepte umsetzen. Gerhard Schröder hatte das damals kapiert, Angela Merkel sowieso.

In der SPD glauben viele, dass sie Schröders Agenda-Kurs in den Abgrund trieb.

Die Partei hat Schröder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie wollte nicht zu viel Modernisierung, sondern lieber zurück in die glückselige Gewerkschaftsidylle des 20. Jahrhunderts. Deshalb steckt die SPD heute in einem multiplen Dilemma. Mit einem klaren Mitte-Kurs hätte sie ihre Verluste an die Linkspartei kompensiert. Sie hat sich aber bewusst dagegen entschieden.

Wenn alle in eine imaginierte Mitte drängen, wird es dort eng – und Unterschiede zwischen Parteien verwischen.

In der Mitte ist Platz genug für alle. Dort verorten sich nämlich 70 Prozent der WählerInnen, das zeigen unsere Studien. Unsere Gesellschaft wird ja interessanterweise konformer, obwohl es hohe Individualitätsansprüche gibt. Die meisten Deutschen wünschen sich soziale Sicherheit, wollen, dass Recht und Gesetz durchgesetzt werden, oder dass Leistung honoriert wird. Es gibt ähnliche Einstellungsbilder in einem großen Teil der Bevölkerung.

Hat sich die Mitte nach links verschoben? Eine Anti-Mindestlohn-Kampagne der CDU wäre heute undenkbar. Vor Jahren hätte sie sie vielleicht noch versucht.

Die Mitte ist kein statischer Ort, sie hat viele inhaltliche Dimensionen. Parteien haben sich immer wieder programmatisch angepasst, um Schritt zu halten. Die SPD verabschiedete 1959 das Godesberger Programm, eine gigantische Modernisierung. Helmut Kohl hat die CDU in den 70ern komplett neu aufgestellt, viel radikaler, als Merkel es später getan hat. Die Konservativen in der Union, die sich die Vergangenheit zurückwünschen, verstehen die Notwendigkeit von Wandel nicht. CDU und CSU sterben in jeder Legislaturperiode gut eine Million ihrer alten WählerInnen weg. Zu glauben, morgen mit dem Gestern gewinnen zu können, ist naiv.

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