Überfüllte Friedhöfe in Istanbul: Kein Platz für Tote

Istanbul wächst stetig. Schwieriger als eine Wohnung ist ein Platz für ein Grab zu finden. Denn Gräber bleiben und Friedhöfe wachsen nicht weiter.

Grabsteine auf einem Friedhof an der Yeniceriler Caddesi, Istanbul, Türkei, Asien

Alles voll? In Istanbul gibt es zu viele Tote für zu wenig Platz Foto: Michael Zegers/imageBROKER/picture alliance

ISTANBUL taz | „Völlig perplex war ich. Damit hatte ich gar nicht gerechnet, es war zum verzweifeln“, erzählt Selim B. (Name von der Redaktion geändert) und schüttelt auch im Nachhinein noch den Kopf. „Die wollten mir einfach nicht helfen“, sagt er.

Die, das sind die Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung von Karacaahmet, dem größten innerstädtischen Begräbnisplatz in Istanbul. Der Friedhof liegt in Üsküdar, auf der asiatischen Seite der Stadt. Er ist nicht nur der größte, sondern auch der älteste muslimische Friedhof der Stadt, denn er wurde bereits vor 700 Jahren angelegt, noch bevor die Osmanen 1453 Konstantinopel eroberten. Der Friedhof ist nicht nur riesig, mit rund 300 Hektar fast ein Drittel größer als der Berliner Tiergarten, sondern auch voller verwunschener Plätze, wo im Schatten großer Bäume alte osmanische Grab­stelen, oft schon etwas in Schieflage geraten, für die Ewigkeit dahindämmern.

Hier, das war der größte Wunsch von Selims Großvater, wollte er begraben werden, und zwar an der Grabstelle, wo schon der Urgroßvater Selims beerdigt worden war. Nach dem Tod des Großvaters ging Selim zur Friedhofsverwaltung, um sich den Grabplatz der Familie zeigen zu lassen. Doch damit begann das Problem. In den neuen, mittlerweile digitalisierten Plänen des Friedhofes, tauchte der Urgroßvater nicht mehr auf. „Sie müssen das Grab finden und es muss einen lesbaren Grabstein haben, sonst können wir ihren Großvater hier nicht beerdigen“, wurde ihm gesagt. Warum? „Es gibt keinen Platz mehr in Karacaahmet“.

Ein Grab für die Ewigkeit

Anders als in Deutschland fällt ein Grabplatz nicht nach einer bestimmten Zeit an die Kommune zurück, die den Friedhof betreibt, sondern bleibt auf ewig im Besitz der Familie. Deshalb muss der Friedhof bei Bedarf erweitert werden, was in den Innenstadtbezirken Istanbuls meist nicht mehr möglich ist. Die historischen Friedhöfe am Goldenen Horn und entlang des Bosporus sind durch die Bevölkerungsexplosion in Istanbul längst von Straßen und Wohnblocks so eingekeilt, dass eine Erweiterung ausgeschlossen ist.

Zincirlikuyu, der größte Friedhof auf der europäischen Seite, hoch über dem Bosporus in Levent, ist in den letzten zwanzig Jahren von den Wolkenkratzern des neuen Finanzdistrikts umstellt worden, die Friedhöfe in Eyüp und Edirnekapı, auf der historischen Halbinsel, nehmen schon lange keine Begräbnisse mehr vor, sondern sind Teil des historischen Ensembles, oder, wie in Eyüp, Teil eines muslimischen Wallfahrtsorts.

Die innerstädtischen Friedhöfe werden bereits von der Immobilienbranche ins Auge gefasst

Das gilt auch für die allermeisten christlichen und jüdischen Friedhöfe. Bis zum Ersten Weltkrieg betrug die nicht-muslimische Bevölkerung mehr als ein Drittel der Bewohner der Stadt. Die Vernichtung, Vertreibung und Umsiedlung des größten Teils der Christen hat dazu geführt, dass heute in Istanbul nur noch 5.000 griechisch-orthodoxe Christen und rund 60.000 Armenier leben. Was geblieben ist, sind ihre Friedhöfe. Vom Verkehr umtost, von Mauern verdeckt, halten sie die Erinnerung an ein anderes, früheres Istanbul wach. Doch diese innerstädtischen Friedhöfe werden bereits von der Immobilienbranche ins Auge gefasst.

In Kuzguncuk, auf der asiatischen Seite der Stadt am Bosporus, liegt der einstmals größte jüdische Begräbnisplatz Istanbuls. Die meisten Juden kamen auf Einladung des Sultans zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf der Flucht aus Spanien nach Istanbul. Anders als Armenier und Griechen wurden sie auch in den Turbulenzen während und nach dem Untergang des Osmanischen Reiches weitgehend in Ruhe gelassen. Doch ein wachsender Antisemitismus vertreibt sie seit Jahren aus der Stadt. Viele, die nach der Gründung Israels noch geblieben waren, gehen jetzt. Das einstmals große Areal des jüdischen Friedhofs in Kuzguncuk wird nur noch zu einem kleinen Teil genutzt, der andere Teil ist aufgelassen und soll zur Bebauung freigegeben werden.

Ein teures Unterfangen

Denn die Stadt wächst weiter, gerade in der Innenstadt sind Wohnungen begehrt, aber die innerstädtischen Friedhöfe wachsen nicht mehr mit. Wer dennoch unbedingt am Bosporus beerdigt werden will, muss rechtzeitig dafür Geld zurücklegen. Auf dem Friedhof oberhalb von Bebek, einem Prominentenort direkt am Bosporus, muss man den Wert eines Kleinwagens hinblättern, um einen Platz zu bekommen. Auch in Ortaköy und in anderen Bosporus­orten ist es nicht viel besser. Erst weiter außerhalb, fast schon am Schwarzen Meer, wird es preiswerter.

Am meisten Platz ist in den neu gebauten Satellitenstädten – also Ansiedlungen in unmittelbarer Nähe Istanbuls – im Westen und Osten der Stadt. In Esenyurt, in Sultangazi und in dem noch ländlichen Gebiet rund um den neuen Flughafen in Arnavutköy, wurden neue Friedhöfe angelegt, die Platz haben, allerdings ist der Weg dorthin lang und den Plätzen fehlt die über Jahrhunderte gewachsene Struktur der innerstädtischen Friedhöfe. Da es aus religiösen Gründen in muslimischen Ländern keine Feuerbestattung gibt und damit die platzsparenden Urnenbegräbnisse nicht in Frage kommen, wird sich an der Friedhofsnot in Istanbul nichts mehr ändern.

Der Ausweg der Stadtverwaltung besteht darin, die Menschen, die in den letzten 40 Jahren zu Millionen aus der ganzen Türkei nach Istanbul eingewandert sind, wenigstens im Tod wieder an den Platz ihrer Geburt zurückzuführen. Die Stadt bietet Angehörigen an, ihre Toten kostenlos an jeden Ort in der Türkei zu transportieren, aus denen sie einmal ausgewandert sind, und selbst die Kosten für die Fahrt der trauernden Familie übernimmt die Stadt. Rund 220.000 Verstorbene wurden so in den letzten zehn Jahren nach dem Tod wieder an den Ort ihrer Geburt zurückgebracht.

Übrigens gibt es auch einen deutschen Friedhof in Istanbul, und zwar wunderbar gelegen, auf einem bewaldeten Hügel über dem Bosporus. Der Friedhof gehört zum Gelände der Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Tarabya, und auch hier hat man als heutiger Zeitgenosse keine Chance mehr. Neben ehemaligen Botschaftern und Generälen liegen dort die deutschen Gefallenen des Ersten Weltkrieges, die im osmanischen Reich kämpfen mussten.

Selim B. hat es am Ende doch noch geschafft. Zwei Tage lang hatte er intensiv gesucht, zahlreiche Namen auf Grabsteinen gelesen, und war durch den Schatten der Bäume von Blumen bewachsenem Grab zu Grab gegangen. Tatsächlich fand er nach stundenlangem mühevollen Suchen ein verwildertes Grab, auf dessen Stein der Name des Urgroßvaters noch lesbar war. Selims Großvater hat also Glück gehabt und als Toter noch seinen Platz in Istanbul gefunden. Nun kann er in Frieden ruhen – in seinem Grab auf dem Friedhof Karacaahmet.

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