Der Scharfsinnige

Das „Moholy Album“ zeigt Motive und Perspektiven, die für den Bauhaus-Meister László Moholy-Nagy ungewöhnlich sind

László Moholy-Nagy: Blick vom Funkturm auf die Terrassencafés im Sommer, Berlin, 1926–28 Foto: Steidl Verlag

Von Ronald Berg

Frauen mit Korb, manchmal im Pelzkragen, auf der einen Seite ziemlich besudelte Fischhändler – und abgerissene Gestalten auf der anderen. Das zeigen Reportageaufnahmen von László Moholy-Nagy über Londoner „Street Markets“. Keine Motive und Perspektiven, wie man sie gewöhnlich mit dem Bauhaus-Meister, Konstruktivisten und Propagandisten des Neuen Sehens in Zusammenhang bringt. Zum Dokumentaristen des britischen Straßenlebens oder des „Eton College“ wurde Moholy-Nagy allerdings erst , als er nach der Emigration aus Deutschland in England gelandet war und dort in den Jahren 1935 bis 1937 Geld verdienen musste. Danach ging er nach Amerika, gründete das New Bauhaus in Chicago, wo er bereits 1946 mit nur 51 Jahren starb.

Noch verblüffender ist freilich, was und vor allem wie Moholy-Nagy in den 20er Jahren fotografiert hat. Denn die meisten dieser Aufnahmen sehen auf den ersten Blick wenig avantgardistisch aus. Urlaubsbilder, Urlaubsorte, Familie sowie Freunde und Bekannte sind die Hauptmotive: Selten mal wird der Horizont verkippt oder aus der Vogelperspektive fotografiert, was damals als ungewohnt, neu und avantgardistisch galt. Vornehmlich auf Reisen griff Moholy-Nagy zur Kamera. Doch von unbedarften Knipserbildern unterscheiden sich die Aufnahmen dadurch, dass er ein sicheres Gespür für Komposition hatte. Da er sich – angeblich wegen einer Allergie – die Dunkelkammerarbeit sparte, sind seine Bilder bereits während der Aufnahme perfekt arrangiert und in den Rahmen gesetzt. Die Kontaktabzüge der 6 mal 9 Zentimeter großen Aufnahmen brauchten für die Endfassung nicht mehr beschnitten zu werden.

Hunderte solcher Kontakte, in Gruppen zu je neun Aufnahmen auf Karton geklebt, sind im Nachlass überliefert. Entdeckt wurden sie erst in den 1970er Jahren von der Tochter. Jetzt widmet sich ein von der Moholy-Expertin Jeannine Fiedler herausgegebenes Buch diesem Bestand unter dem Titel „Moholy Album“.

Der gut gedruckte Wälzer versammelt mehr als tausend Aufnahmen, wobei einzelne großformatig herausstellt werden. Zudem hat Fiedler vieles über Ort, Zeit, abgebildete Personen und Umstände bei den Aufnahmen recherchiert und die Fotos in kunsthistorischer Manier kommentiert. Herausgekommen ist ein detaillierter Überblick über das fotografische Schaffen jenes Mannes, der 1927 den „Fotografie-Unkundigen“ als „Analphabet der Zukunft“ bezeichnete.

1928, mit der Demission von Gründungsdirektor Walter Gropius, verließ auch Moholy-Nagy das Bauhaus. Gropius hatte den Ungarn 1923 an die Schule geholt, wo er Leiter der Metallwerkstatt wurde und den Vorkurs abhielt. Viel bekannter und wichtiger wurde Moholy-Nagy aber für die Fotografie. Kaum hatte er sich (wahrscheinlich mithilfe seiner ersten Ehefrau, der Fotografin Lucia) das Fotografieren beigebracht, schrieb er bereits die maßgeblichen und scharfsinnigsten theoretischen Texte über das Medium. Als Multitalent, zudem charmant, ungeheuer kreativ und umtriebig, war Moholy-Nagy am Dessauer Bauhaus die entscheidende Figur – neben Gropius. Die beiden dürften sich verstanden haben, weil sie mit ähnlicher Chuzpe für die neue Einheit von Kunst und Technik eintraten.

Im „Moholy Album“ entdeckt man nun zwar auch einige bekannte Beispiele des Neuen Sehens, interessanter sind aber diejenigen Fotos, die etwas über Moholy-Nagy privat erzählen. Offenbar interessierte sich der nur abstrakt malende Konstruktivist für Menschen und näherte sich ihnen mithilfe der Kamera. Zum Beispiel Frauen. Es wäre zu viel gesagt, hier von einer „schweren erotischen Obsession“ (FAZ) zu sprechen, auch wenn er einige weibliche Akte fotografiert hat – meist beiläufig während der Ferien am Strand. Häufig fotografierte Moholy-Nagy aber Kinder, Porträts und vielfach Strukturen aus Gittern, Draht oder Wagenspeichen. Letzteres steht in Beziehung zu Moholy-Nagys Idee, wonach das optische Material mittels Fotokamera neu geordnet werden sollte, um buchstäblich neue Perspektiven zu entdecken. Der kameragestützte Blick könne und sollte so ein Neues Sehen hervorbringen als genui­ner Ausdruck der von Maschinen bestimmten Gegenwart.

Insofern war der Berliner Funkturm bildwürdig, allerdings bleiben davon aus der Vogelperspektive nur die „abstrakte“ Gitterstruktur der Stahlträger übrig und das Arrangement der Stühle im Café darunter. Moholy-Nagy war indes mehr Ästhet als Ingenieur, auch wenn er am Bauhaus im Monteurs-Overall herumlief. Bauhaus-Bauten selbst kommen bei seinen Bildern übrigens gar nicht vor, sondern fungieren nur mal als Hintergrund für Porträts von Tänzerin Gret Palucca, die 1927 einen Auftritt am Bauhaus hatte. Moholy-Nagy befand, sie sei „mindestens so prachtvoll wie der Eiffelturm“.

László Moholy-Nagy: „Moholy Album. Perspektivwechsel auf den Fotostrecken der Moderne. László Moholy-Nagys schwarzweißfotografische Arbeiten 1924–1937“. Hrsg. v. Jeannine Fiedler, 352 Seiten (Hardcover), Steidl Verlag, 68 Euro