Musik der Zukunft, die es nicht gab

Am Dienstag präsentiert Yoel Gamzou seine ganz eigene, hochemotionale Fassung von Mahlers 10. Symphonie in Bremen: Das wird für die Stadt das wichtigste Konzert des Musikfests

Als ob das Stück ihn erwählt hat: Yoel Gamzou, Generalmusikdirektor des Theaters Bremen, fühlte plötzlich, wie sich ihm Takte aus Gustav Mahlers unvollendeter 10. Sinfonie offenbarten Foto: Christian Debus

Von Benno Schirrmeister

Musik gehört zu den rätselhaftesten Din​gen der Welt, über die zu schreiben kaum sinnvoll möglich ist. Und Gustav Mahlers 10. Symphonie gehört zu den rätselhaftesten Werken der Musikgeschichte – oder besser: Sie hätte dazu gehört, wenn sie denn vollendet worden wäre, das lässt sich klar an jedem Takt der Manuskripte ablesen, besser noch als an den existierenden Aufführungsfassungen: Die jüngste, die Yoel Gamzou von 2003 bis 2010 realisiert hat, wird unter dessen Leitung am kommenden Dienstag im Rahmen des Musikfests Bremen von den Bremer Philharmonikern gespielt.

Ohne jedes Geheimnis ist die Unvollendung selbst: Mahler war 1897 frohgemut aus Hamburg an die Wiener Hofoper gegangen. Aber im Herbst 1910 ist er dort vom Judenhass aus dem Job gedrängt, von Eifersucht geschüttelt und von einer Streptokokken-Infektion komplett ausgelaugt gewesen. Deshalb hat er bis zu seinem banalen Herztod im Mai 1911 nicht mehr geschrieben. Und wer tot ist, kann nicht komponieren. So trivial ist die Realität.

Die Wirklichkeit der Noten und der Klänge hingegen, die spielt sich anderswo ab: Auf dem Papier, ja, aber vor allem doch als psychischer Prozess im Kopf, sodass die Wahrnehmungen der Noten auch komplett unterschiedlich sind. Der Spiegel zum Beispiel bezeichnet die Partitur-Entwürfe immer mal wieder als „wirr“. Andere sehen darin große Linien eines Entwurfs, der weit über alles damals Ohrenmögliche hinausweist und auch heute noch die Welt der Klänge entgrenzt.

Gamzou ging das so, der, das darf man wohl sagen, wie besessen ist von diesem Werk: „Schon auf den ersten Blick schien mir offensichtlich“, schreibt er im Vorwort zu seiner Ausgabe der Partitur, „dass diese Symphonie eine einzigartige Bedeutung in der Musikgeschichte besitzt.“ Sie sei „innovativ, intensiv und ehrlich zu einem Grad, welcher den der meisten Kunstwerke, die ich kenne, übertrifft“.

Wie und dass er diese Symphonie auf seine Weise vollenden musste, ist völlig einleuchtend und doch zugleich eine verwickelte und leidlich paradoxe Geschichte. Er war gerade mal 13 Jahre jung, als er, daheim in Tel Aviv, eine Aufnahme mit dem von Mahler noch weitgehend fertiggestellten Adagio gehört hat, dem ersten der geplanten fünf Sätze.

Das Kind war zutiefst ergriffen, hätte es zu Mahlers Lebzeiten wohl geheißen. Es war völlig geflasht, würde man heute sagen. Und genau zwischen den Ausdrücken, die beide eine innige Begeisterung benennen sollen, liegt die Wahrheit, die eine Aufführungsfassung dieses Werks anstreben kann: Entweder hört und vervollständigt man es aus der Historie heraus, als wäre Mahler nichts Neues mehr eingefallen. Das ist mehrfach geschehen, mit achtbaren Resultaten und sehr seriös, aber auch ein wenig fad.

Gamzous Weg ist ganz gegensätzlich, nämlich: er scheint aus einer Zukunft zu kommen, die Musik als Ganzes gehabt hätte, wenn Mahler die Zeit und die Kraft geblieben wäre, diese letzte, alles revolutionierende Symphonie zu vollenden. Von dieser Zukunft, die unsere Gegenwart hätte sein können, es aber nicht ist, hat er die Komposition re-konstruiert, obwohl es sie nie gab: Fis-Dur als Grundtonart ist nur ein Symbol dafür, dass in ihr der Quintenzirkel ausgeschöpft ist. Die Musik führt durch die ensetzlichste Verzweiflung. Die Bratschen werden den Kosmos erlösen. Es wäre eine so unendlich viel bessere Welt gewesen.

Diese Art der Rekonstruktion folgt keiner rational-analytischen Methode. Eher hat es etwas von surrealistischer Ècriture automatique: „Eines Tages fühlte ich plötzlich, wie ein paar Takte aus dem 3. Satz der Symphonie begannen, sich zu offenbaren und mir wurde klar, wie sie gehört werden wollten“, so schildert der Dirigent, wie er begonnen hat.

„Meine Hand nahm, fast unbewusst, einen Stift und Notenpapier und begann, einige Takte flüchtig zu Papier zu bringen.“ Ohne Plan, ohne Absicht, einfach drauf los. Aber plötzlich habe es Sinn gemacht, hatte in Gedanken angefangen, richtig zu klingen – es war „als ob das Stück mich erwählt hätte“.

Seit Gamzou im September 2010 die Uraufführung dirigiert hat, erobert sich seine hoch emotionale Fassung mehr und mehr die Podien. Über 90-mal ist sie bereits gespielt worden, im Januar steht die 100. Aufführung an.

Ihre Bremen-Premiere macht dieses Konzert für die Stadt zum wichtigsten Ereignis des Musikfestes: Gamzou, als Generalmusikdirektor der Oper seit zwei Jahren zurecht bejubelt, gibt sich mit ihm persönlich preis. Das Orchester verrät, wie es mit ihm zurecht kommt. Und die Stadt erlebt, wie die bessere Welt klingt, die möglich ist.

Di, 27. 8., 20 Uhr, Bremen, Glocke