Herz gewinnt
gegen Kopf

Union Berlin rennt Borussia Dortmund überraschend mit 3:1 nieder.
Während der Aufsteiger aus wenig viel macht, sieht sich das Team von Favre mit überwunden geglaubten Problemen konfrontiert

Passives Abwehrverhalten: Sebastian Andersson (rot) schiebt den Ball problemlos zum 3:1 ins Tor Foto: reuters

Aus Berlin Johannes Kopp

Die Zahlen, die da am Ende an der Anzeigetafel der Alten Försterei prangten, schienen kaum glaubhaft zu sein: 3:1 für Union gegen Dortmund? Verteidiger Neven Subotićversuchte, die gewaltige Überraschung am Samstagabend mit anderen Ziffern zu vermessen und dadurch fassbarer zu machen. „Ich habe gehört, dass wir 126 Kilometer gelaufen sind. Das ist wirklich eine hohe Zahl, in den Spielen davor waren es 110 Kilometer. Das zeigt, wie viel wir investieren mussten, um mit Dortmund mithalten zu können.“

Ein gutes Stück Wahrheit steckte in diesen Zahlen. Der Aufsteiger hatte sich gegen den selbst ernannten Meisterschaftskandidaten den 3:1-Erfolg auch intensiv erlaufen. Ein mobiles, verschiebbares Dickicht geschaffen, das auch die sprintstarken Außenspieler des Gegners nicht lichten konnten. Der ehemalige Dortmunder Subotićerklärte, man habe gegen so ein Team wie Borussia nur eine Chance, wenn man möglichst schnell hinter den Ball komme, die Räume eng mache, ständig Druck ausübe, um auch schnelle Gegenstöße zu ermöglichen. Das klingt in der Theorie eigentlich fast schon etwas banal, nach Taktik-Grundschule. Doch das Dortmund-Besieger-Rezept von Subotićbedarf noch zweier Zutaten mehr, die nicht immer so einfach zu haben sind: ein Quäntchen Glück und ein Borussen-Team, wie es Subotićhöflich formulierte, „das nicht ihr bestes Spiel gemacht hat“.

Sehr glücklich, sagte der 30-jährige, sei er über das Spiel, weil es so nicht viele Leute für möglich gehalten haben. „Wir konnten unseren Fans und allen Teams, die hierher kommen, zeigen, dass wir zwar ein kleines Team sind, aber ein großes Herz haben.“ Perspektivisch betrachtet könnte diese Demonstration noch viel mehr wert sein als die drei gewonnenen Punkte. Und zu dem gelungenen Abend gehörte dazu, dass diese Botschaft bereits auf dem roten T-Shirt stand, das Subotićsich nach dem Spiel übergezogen hatte: „Nehmt euer Herz in beide Hände“

Vor der Partie hatte der Verein 20.000 Exemplare davon an die Fans verteilen lassen. Union Berlin versteht sich schon lange darauf, sich als Herzensverein und Klub der Leidenschaft zu verkaufen – mit stets kommerzkritischer Haltung. Derlei Botschaften überstrahlen dann auch die dicht beklebten Sponsorenwände, die hinter Subotićaufgebaut waren.

Das traditionell gute Zusammenspiel mit den Fans, die das Herzensmotto zum entscheidenden Relegationsspiel gegen den VfB Stuttgart für eine Choreo kreiert hatten, erweist sich zudem als starkes Pfund. Torschütze Sebastian Andersson erklärte, schon beim verpatzten Bundesligaauftakt gegen Leipzig sei die Atmosphäre bestens gewesen, „aber als wir heute das 2:1 gemacht haben, ist sie explodiert. Das hat sehr geholfen.“

In der Kunst, aus wenig viel zu machen, setzte Union obendrein Maßstäbe. Bei einem kümmerlichen Ballbesitzwert von 26 Prozent erzielte das Heimteam deutlich mehr Ecken als die Gäste (7:4). Das war insofern von besonderer Bedeutung, weil zwei der drei Treffer nach Eckstößen entstanden.

Das Kontrastprogramm zu den leidenschaftlichen Unionern verfolgt man bei Borussia Dortmund. Deren Trainer Lucien Favre misstraut den Emotionen und lehrt sein Team, mit dem Kopf zu spielen. Bereits direkt nach dem 0:1, das Doppeltorschütze Marius Bülter in der 22. Minute erzielt hatte, mahnte er gestenreich zur Ruhe. „Wir müssen in so einem Fall die Geduld behalten, nicht überhastet spielen.“ In der ersten Halbzeit sei das noch gelungen, Nur drei Minuten Zeit brauchte man, um durch Paco Alcácer den Ausgleich zu erzielen. Auf den zweiten Treffer von Bülter (50. Minute) fand die Borussia keine Antworten mehr.

„Ich habe gedacht, dass wir einen Schritt weiter sind“

Sebastian Kehl, BVB-Funktionär

Wobei das weniger an den von Favre so verhassten Unbeherrschtheiten lag als vielmehr an der Temperamentlosigkeit seines Teams. Die Angriffe folgten immer denselben monotonen Mustern, die aber auch deshalb nicht zum Erfolg führen konnten, weil die Bälle viel zu häufig unpräzise gespielt wurden.

Trotz des Qualitätszuwachses durch die kostspieligen Neuzugänge sieht sich der Vize-Meister Borussia Dortmund wieder mit einem entscheidenden Problem der Vorsaison konfrontiert, als man gerade gegen die kleinen, kampfbetonten Teams in der Liga etliche Punkte verschenkte. Sebastian Kehl, der Chef der Lizenzspielerabteilung, erklärte: „Ich habe gedacht, dass wir einen Schritt weiter sind, und das ist sicherlich enttäuschend.“

Julian Weigl warnte vor einer allzu großen Weltuntergangsstimmung: „Wir sind als Mannschaft nicht fertig, natürlich hatten wir einen guten Saisonstart, aber es war uns klar, dass jetzt nicht alles aus einem Guss läuft. Wir dürfen nicht ein zu großes Fass aufmachen.“ Angesichts ähnlicher Probleme beim letzten Auswärtsspiel beim 1. FC Köln dürfte das Thema aber nicht so schnell vom Tisch sein. Union Berlin hat eine weitere Blaupause angefertigt, wie minderbemittelte Teams gegen temperamentlose Dortmunder glänzen können.