Buch über Tierforschung: Zerteiler und Zerstörer

Bedient die Ratte nur im Labor die Hebel oder auch in der Kanalisation? Vinciane Despret stellt die Vorgehensweise der Tierforscher radikal infrage.

Katze hinter Milchglasfenster

Es ist anzunehmen, dass die Haltung das Verhalten von Tieren ziemlich nachhaltig verändert Foto: Seamus Murphy

Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen? Gewiss sehr Erstaunliches, aber was wären die richtigen Fragen? „Magst du Gassi gehen?“ Na klar, sagt uns der Hund. Oder an den Löwen gerichtet: „Magst du das Warzenschwein jagen, oder sollen dies deine Löwinnen für dich tun?“ Als Antwort käme ein Löwenblick, so wir als Frager überhaupt eines Blickes würdig erachtet würden. Von dieser Art Fragen gibt es zwar eine Menge, aber für die Forschung sind sie zu banal.

Die andere Möglichkeit, geduldig zu beobachten und sich selbst zu fragen, warum hat dieses Tier gerade etwas getan oder auch nicht, wird als unwissenschaftlich zurückgewiesen, weil Zusehen keine experimentelle Überprüfung darstellt. Allenfalls kann es als Vorstufe zur eigentlichen Forschung angesehen werden. Was eben die Frage nach der „richtigen Frage“ aufwirft.

Wie die Forschungspraxis vorgeht, damit hadert die Philosophin Vinciane Despret. Ziemlich heftig sogar. Das liegt sehr an den Beispielen, die sie für ihr kritisches Alphabet durchleuchtet, von A wie Anmut bis Z wie Zoophilie. Dabei geht es ihr nicht um das Zoologische, sondern um die Art der Forschung und die Forscher selbst. Was bedeutet artgerechte Haltung, etwa von Rindern oder Schweinen, wenn es um Probleme des Tierwohls oder um Fortschritte in der Nutztierhaltung geht?

Vinciane Despret: „Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen?“ Übers. v. Lena Völkening. Unrast Verlag, Münster 2019, 320 Seiten, 19,80 Euro

Nicht einmal vom Hund, dem emotional am engsten mit den Menschen verbundenen Tier, wissen wir hinreichend sicher, was sein natürliches Verhalten wäre, bliebe er Hund und würde er, auf sich und andere Hunde allein gestellt und unabhängig von Menschen lebend, nicht (wieder) Wolf. Viele Hundehalter sind überzeugt, dass es ihr Hund bei ihnen am besten hat.

Wie auch die Katzen, sonst kämen sie nicht wieder zurück von ihren Streifzügen. Aber das tun Vögel ebenso, die aus dem Käfig entlassen werden. Was nahe legt, anzunehmen, dass die Haltung das Verhalten von Tieren ziemlich nachhaltig verändert. Und damit die Frage nach den richtigen Fragen zur rhetorischen Frage degradiert.

Menschenaffen probieren gern etwas aus

Vinciane Despret bleibt uns Antworten auf ihre Buchtitelfrage zwangsläufig schuldig. Sie kritisiert, und dies massiv: „Wegnehmen, separieren, verstümmeln, entfernen, entziehen. Alles … wird unendlich oft wiederholt. Das Experiment des Separierens hört nicht damit auf, dass man Lebewesen voneinander trennt, es besteht auch darin, zu zerstören, zu zerstückeln und vor allem darin, Dinge wegzunehmen. Als wäre das das Einzige, was wir tun könnten.“

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Harte Worte fürwahr, zutreffend in manchen Fällen sicherlich, aber gewiss nicht allgemeingültig. Wie auch nicht alle Menschen schlecht sind, weil es so viel Schlechtigkeit in der Welt gibt. Die Verhaltensforscher Karl von Frisch, Konrad Lorenz und Niko Tinbergen erhielten den Nobelpreis nicht für solche Tierforschungen, die Vinciane Despret kritisiert. Und viele andere, zu Recht sehr berühmte, wie Frans de Waal oder Jane Goodall, fallen gleichfalls nicht in die Kategorie der Zerteiler und Zerstörer.

Menschenaffen probieren gern etwas aus. Wenn sie bei Tests Kisten aufeinanderstapeln, um zu einer an der Decke aufgehängten Banane zu kommen, ist das keine unangemessen experimentelle Herausforderung, denn Bananen wachsen ihnen in der tropisch-afrikanischen Heimat auch nicht in den Mund.

Wer ist hier dominant?

Das Leben in der Natur stellt sie immer wieder vor neue Herausforderungen. Ist Desprets Buch also eine überzogene Kritik? Es so zu bewerten, würde die Schlagseite lediglich umkehren, der Problematik aber nicht gerecht werden. Denn sie geht tiefer. Das Buch sollte nicht (nur) aus der Sicht des am Tierverhalten forschenden Zoologen betrachtet werden. Da ließ sich gewiss an manchem Detail herummäkeln.

Ihre Beispiele erschrecken. Das sollen sie. Ihre Kritik ist konstruktiv gemeint

Auch die rein philosophische Betrachtung würde den Kern nicht erreichen, weil umfassende Vorkenntnisse des Tierverhaltens vorausgesetzt werden müssten, über die bei der breiten Palette der gewählten Arten und Themen nicht einmal die Zoologen selbst in gleicher Tiefe verfügen. Vielmehr stellt Vinciane Despret die Vorgehensweise der Forscher und die Interpretation der Befunde auf den Prüfstand.

„Ein Tier dominant zu bezeichnen, fördert eine bestimmte Art von Narrativ, es bewirkt, dass wir manchen Verhaltensweisen eine andere Form von Aufmerksamkeit schenken als anderen, und es macht den Bezug auf andere mögliche Varianten nicht mehr greifbar … Anhand dieses Begriffs wird immer die gleiche Geschichte erzählt. Er grenzt das Szenario ein.“ Die Beschreibung von Verhaltensweisen mit uns vertrauten Begriffen aus der Menschenwelt verändert also das Geschaute und drängt es in eine vorgegebene Erklärungsrichtung, so ihre Kritik.

Damit fügen sich die Befunde automatisch ein in unsere Sichtweise. Das lässt keine andere mehr zu. Der eine Schimpanse ist dominant, weil der andere vor ihm kuscht, der jedoch einen Dritten dominiert, woraus sich ganz von selbst eine Hierarchie in der Schimpansengruppe ergibt.

Was daran kritikwürdig sein soll, erschließt sich erst im größeren Zusammenhang, insbesondere in der historischen Betrachtung. Da zeigt sich in der Tat, dass je nach Zeitströmung die Forschungen und Interpretationen schlagseitig sind.

Die richtigen Fragen gestellt

So nimmt gegenwärtig die Suche nach Kooperationen und Konfliktvermeidungen bei Tieren stark zu, während zu Beginn der Vergleichenden Verhaltensforschung hierarchische und konkurrierend-aggressive Verhaltensweisen im Vordergrund standen. Der „Kampf ums Dasein“ wird jetzt immer stärker durch den Erfolg des Miteinanders ersetzt. In dieser Hinsicht trifft Vinciane Despret den Nerv. Aber auch in Bezug auf den Paradigmenwechsel vom analytischen zum holistischen Denken.

Dass sie das Wegnehmen, Verstümmeln, Entziehen in der Erforschung des Tierverhaltens so heftig kritisiert, hat seine Berechtigung, wenn es um die Sicht des Ganzen geht. Da kann die Laborratte, die Hebel bedienen soll, nie und nimmer Aufschluss über das natürliche Rattenleben geben, wohl aber über Vorgänge im Gehirn unter stark vereinfachten Bedingungen. Solche aus dem Verhalten von Ratten an Müllhalden oder in der finsteren Welt der Kanalisation erschließen zu wollen, ist schlicht unmöglich. Beide haben ihre Berechtigung, die Forschungen am Detail und am Ganzen.

Aber eine Berechtigung in der Fragestellung ist nicht gleichbedeutend mit Rechtfertigung der Vorgehensweise. Uns dies nahe zu bringen, darum geht es Vinciane Despret. Ihre Kritik richtet sich nicht grundsätzlich gegen die Erforschung des Tierverhaltens, sondern gegen ganz bestimmte Formen und Denkweisen, die damit verbunden sind. Ihre Beispiele erschrecken. Das sollen sie.

Ihre Kritik ist konstruktiv gemeint, und daher willkommen. Sie liefert den Gegnern von Tierversuchen viel Munition. Sie wird aber heftigste Kritik aus jenen Kreisen der Tierforschung erhalten, die es angeht. Und sie hat sich vielleicht auch philosophisch zu weit auf (fach)fremdes Terrain begeben. Zuzustimmen ist ihr aber auf jeden Fall: Es geht darum, „die richtigen Fragen zu stellen“.

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