Kunst fürden Moment

In den Ruinen des Bahnbetriebswerks Reichenbach planen Künstler ein Streetart-Festival. Nur ein Spielplatz für Großstädter – oder profitiert auch dieProvinz?

In Leipzig-Connewitz fahren wir los, zwei Wochen vor der Landtagswahl. Ist es vermessen, Sachsen zu vermessen?

Aus Reichenbach Kersten Augustin
und Paul Wrusch

Die Sachsentour beginnt in Leipzig. „Wo sollen wir hin, wen sollen wir treffen?“, fragen wir bei Twitter. Ein User gibt uns einen Tipp: Reichenbach, da starte bald die Ibug Art. Wir steigen in den Bulli, wenig später sind wir da, auf dem Gelände des Bahnbetriebswerks.

Als Manfred Schädlich das erste Mal hier stand, im Sommer 1962, arbeiteten hier 600 Menschen. Er war 22 Jahre alt und Fahrer, lenkte Lkws, kutschierte Chefs, Gäste, Größen des Politbüros. „Das war gute Arbeit“, sagt Schädlich.

Als Thomas Dietz 2018 das erste Mal hier stand, lag Schnee auf den Ruinen. Überall Glasscherben. Die Gleise waren aus dem Boden gerissen, die Dächer eingestürzt. Er dachte: „Geil.“ Und: „Das schaffen wir nicht.“

Wenige Tage vor Beginn der Ibug Art, des Festivals, das Dietz und sein Team seit April vorbereiten, stehen Schädlich und der junge Leipziger nebeneinander am Rande des Geländes und reden über alte Zeiten. Über die Kegelbahn, die erst 1998 gebaut wurde, ein Jahr bevor das Bahnbetriebswerk stillgelegt wurde, über den Niedergang der Industrie. „Kommen Sie auch zu unserem Festival?“, fragt Dietz. Schädlich guckt ihn skeptisch an: „Mal sehen.“

In drei Tagen reisen 100 KünstlerInnen aus 20 Ländern nach Reichenbach an, die Kleinstadt im Vogtland. Sie haben dann eine Woche Zeit, sich die Ruinen anzueignen, Räume zu finden für ihre Kunst. Für Malerei, Graffiti, Multimediainstallationen, Aktionen. „Wir geben dem Gelände noch mal einen Sinn“, sagt Dietz.

Die Industriebrache des alten Bahnbetriebswerks in Reichenbach. Noch sind die KünstlerInnen nicht da, ein Sprayer hat aber schon vorgelegt Fotos: Kersten Augustin und Paul Wrusch

„Nehmt die Fahrräder, aber passt auf die Scherben auf!“, sagt Dietz. Es geht vorbei an Ruinen, aus denen Bäume wachsen, über verschlungene Wege, hinab in einen Bunker, in eine riesige Halle, in der früher die Loks parkten. „Die große Wand haben wir schon an Künstler vergeben, 10 mal 25 Meter“, sagt Dietz. Die Lampen an der Decke wurden instandgesetzt, am Rand lehnen Matratzen und Feldbetten für die KünstlerInnen und HelferInnen. Weinflaschen stehen auf Bierbänken, zwischen Laptops, To-do-Listen und Aktenordnern. Aus einer Kloschüssel in der Ecke wächst Basilikum. Blickt man sich um zwischen Schutt, Pflanzen, Holz und Ruinen, kann man kaum glauben, dass hier in wenigen Tagen bis zu 15.000 Festivalgäste erwartet werden.

Das Festival gibt es seit 2006, Dietz war von Beginn an dabei. Die Idee verbirgt sich schon im Namen: Ibug steht für Industriebrachenumgestaltung. Mittlerweile ist das Ibug eines der anerkanntesten Festivals für urbane Kunst. Die MacherInnen suchen jedes Jahr nach alten Industriegebäuden in Westsachsen, die dann von KünstlerInnen umgestaltet werden. Sie waren in Plauen, Zwickau, Chemnitz. „Orte wie dieser werden immer rarer, auch in Sachsen“, sagt Dietz. Im Team sind einige sogenannte Urban Explorer, „die streifen durch Sachsen und suchen nach solchen tollen Orten“.

Es ist ein Widerspruch: Einerseits profitiert das Streetart-Festival vom Verfall. Der Niedergang ist eine Kulisse für die Künstler. Andererseits haben die OrganisatorInnen den Anspruch, Kunst in die Provinz zu bringen.

Wenn man Dietz fragt, wie nachhaltig das Festival sei, erzählt er von der veganen Verpflegung. Erst auf Nachfrage beantwortet er die Frage, ob das Festival einer Stadt wie Reichenbach und den Anwohnern über die zwei Wochen hinaus etwas bringe. Dietz ist realistisch: Der Ort werde weiter verfallen, auch mit bunten Wänden.

Das Gelände ist voller Fallen, unter morschen Dachlatten kann es plötzlich ein paar Meter in die Tiefe gehen. Die Künstler mussten unterschreiben, „dass wir keine Schuld haben, wenn sie sterben“, sagt Dietz. Nach dem Festival werde sich das Tor zum Bahngelände wieder schließen.

Entlang dem Gelände, etwas den Hügel hinauf, reiht sich Schrebergarten an Schrebergarten. Noch heute gehören die meisten davon ehemaligen Mitarbeitern des Werks, den Bahnern, wie sie hier sagen. Manfred Schädlich steht vor seinem Garten, hält sich am Zaun fest. Im Hintergrund schneidet seine Frau an den Sonnenblumen, die Katze wälzt sich auf dem Rasen.

Als das Bahnwerk 1999 geschlossen wurde, nahm Schädlich das Angebot an, mit 60 Jahren in Frührente zu gehen. Seitdem kann er von seinem Schrebergarten dabei zusehen, wie der Ort, an dem er 40 Jahre lang gearbeitet hat, verfällt. Zu sehen, wie alles, was irgendwie kostbar war, weggeschafft wurde, tat weh. „Die haben da nicht nur eine Million rausgeschleppt“, sagt Schädlich.

Gegen das Festival hat der 79-Jährige nichts. Die jungen Leute seien ganz nett. Er schaut zu Dietz, nüchtern, nicht böse sagt er: „Es dauert nicht lange, dann sind die wieder weg.“