Lotse durch die Bilderflut

Was man mit Fotografie über Themen herausbekommt: Die Zeitschrift „European Photography“ feiert 40. Jubiläum

Blick von oben. Eins der Themen, die „European Photography“ interessiert, ist die gegenwärtige Stadt Foto: European Photography

Von Ronald Berg

Vierzig Jahre sind eine lange Zeit, wenn man daran denkt, was 1979 Stand der Dinge in Sachen Fotografie war. Damals fotografierte man auf Filmstreifen und diskutierte die Frage, welchen Wahrheitsanspruch solche analogen Abbilder der Welt erheben könnten und in welchen Fällen auch mit dem Fotoapparat Kunstwerke produziert würden. Als Antwort auf die Frage nach Wahrheit – genauso wie auf die nach der höheren Wahrheit der Kunst – galt vielen die verblüffende Gleichung: Die Welt ist farbig, die Wahrheit aber ist schwarzweiß.

In den ersten paar Jahren fanden solche Debatten über das Medium Fotografie in der von drei Studenten gegründeten Zeitschrift European Photography statt. Der Name der Publikation – damals noch komplett schwarzweiß gedruckt – war selbst bereits so etwas wie eine Positionierung in der Debatte über die Frage nach dem Status von Fotografie als Kunst. European Photography setzte auf die sogenannte Autorenfotografie. Eine europäische Begriffserfindung im Anschluss an den vor allem in Frankreich entstandenen Autorenfilm, der andere Mittel und Wege ging, die Welt im Bild darzustellen als das Studiosystem à la Hollywood in Amerika – auch ästhetisch. European Photography bedeutete also vor allem eine Möglichkeit, die im eigenen Auftrag entstandenen Bilder einer ganzen Bewegung von jungen Fotografen gegen die kommerzielle Gebrauchsfotografie abzugrenzen.

165.000 Follower

Die Zeitschrift mit dem inzwischen anachronistischen Titel existiert auch heute noch und erscheint inzwischen zweimal jährlich. Die letzte Ausgabe von diesem Sommer trägt die Nummer 105. ­Gebrauchsfotografie – etwa aus Werbe‑ und Modewelt – oder Artikel über Kameras und Fototechnik findet man immer noch nicht in dem 80-seitigen Heft, Werbeannoncen (ausschließlich für Museen, Fotofestivals oder Galerien) erstrecken sich maximal auf neun Seiten (ursprünglich auch, um den Status als Postvertriebstück zu halten). Die 2.000 Exemplare der Zeitschrift werden schließlich auch im digitalen Zeitalter noch auf Papier gedruckt und per Post in alle Welt verschickt. Allerdings wäre eine solche Verbreitung wohl ohne eine parallele Internetpräsenz nicht möglich. 165.000 Follower hat die Zeitschrift inzwischen auf Facebook, berichtet Andreas Müller-Pohle, der verbliebene Herausgeber, Verleger und Redakteur des heutigen Ein-Mann-Unternehmens (plus einige freie Mitarbeiter).

Und Müller-Pohle nennt sich selbst auch noch Künstler. Das liegt am Wandel, den die Fotografie durchgemacht hat. Denn 1979 trauten sich die Autorenfotografen wie er noch nicht, sich selbst als Künstler zu benennen. Der Wandel ergab sich erst mit dem Kunstboom im Laufe der 80er Jahre, als der Kunstbetrieb die Fotografie entdeckte.

Heute hält Müller-Pohle mit seiner European Photography auch zum Kunstbetrieb einen gewissen Abstand. Interessanter findet er die Netzfotografie. Im Grunde sind es jene Fotoprojekte, die es auf diversen Plattformen im Internet zu entdecken gibt und die wegen der Qualität ihres Ansatzes in gut gedruckter Form auf den Seiten der Zeitschrift Eingang finden. Qualität heißt für Müller-Pohle: Kontext, Methode und Konzept müssen stimmen und adäquat zum Thema passen.

Früher ging es der Zeitschrift um Debatten, heute darum, aus der digitalen Bilderflut die lohnenden Ansätze herauszufischen

European Photography schöpft heute so etwas wie die Crème de la crème der unendlich Menge der im Netz kursierenden Bilderflut ab. Man könnte auch sagen: Die Zeitschrift ist damit eine Art Lotse durch die Bilderflut geworden. Heute geht es auch bei European Photography nicht mehr um Theorie oder um Stilfragen, sondern um aktuell kursierende Themen und was man mit Mitteln der Fotografie über sie herausbekommt. Müller-Pohle fasst sie in Begriffe wie „Investigative Issue“, „FemGaze: Women on Women“, „Retro-Photography Issue“, „Urbanics – The Contemporary City“ oder wie aktuell „Generation Y“ (mit Bildern ausschließlich von Fotografen, die 1980 geboren wurden).

Die Zeitschrift erscheint mittlerweile zweisprachig, deutsch/englisch, hält sich aber beim Textanteil inzwischen extrem zurück. Die Hauptsache sind die großformatig gedruckten Bilder von im Schnitt einem Dutzend Fotoprojekten, kombiniert mit dem Statement in eigener Sache des jeweiligen Fotografen.

Offenbar ist nach 40 Jahren zum Medium der Fotografie selbst alles gesagt, die Debatten von einst sind Geschichte. Allerdings gibt es immer noch einige sensuelle Connaisseurs, die Lust auf gute Fotos haben. Und vielleicht ist die Auswahl in der European Photography doch ein implizites Statement zum Status der Fotografie heute: Es gibt offenbar diejenigen Fotos, die man (auf Papier) festhalten möchte, und solche, die im Mahlstrom der Medienkanäle getrost vorbeirauschen dürfen.

European Photography (Heft 105) 18 Euro, im Netz: equivalence-shop.com