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Tango vor dem Altar

Gotteshaus GmbHs: Kulturkirchen locken mit besonderer Akustik und Atmosphäre zu Konzerten und Ausstellungen. Entstanden sind sie seit den 80er Jahren als Reaktion auf hohe Instandhaltungs- und Renovierungskosten und schrumpfende Kirchengemeinden

Auch Neuruppin hat seine Kulturkirche: die Pfarrkirche Sankt Marien Foto: Jens Kalaene/dpa/picture alliance

Von Joachim Göres

An der Decke der Kirche hängt ein großes weißes Tuch, ein sogenanntes Akustiksegel für einen besseren Klang. Darauf und auf die hohen hellen Wände fällt dunkelrotes Licht. Und dort, wo sich sonst der Altar befindet, steht ein Flügel. Während des gut besuchten Konzerts mit Nachwuchspianisten brandet immer wieder Beifall des Publikums auf. „Wir treten gerne in St. Johannis auf. Diese Kirche ist ein sakraler Ort mit einer besonderen Atmosphäre und Akustik. Es macht Spaß, hier zu spielen“, sagt Amadeus Templeton, Leiter des Klavierwettbewerbs Tonali.

St. Johannis im Hamburger Stadtteil Altona präsentiert sich als Kulturkirche – hier ist Klassik, Pop und Jazz zu hören, regelmäßig wird Tango getanzt und manchmal gibt es Puppentheater, Stummfilmkonzerte und Poe­try Slam. Zudem vermietet die gemeinnützige Kulturkirche Altona GmbH das Gotteshaus an Konzertveranstalter wie auch für Feiern an Privatpersonen und Unternehmen.

Und einmal im Monat lädt die Kirchengemeinde auch weiterhin zu Gottesdiensten sowie zu Orgelkonzerten und Auftritten ihres Chors in das 1873 fertiggestellte Gebäude ein. Die hauptsächliche Nutzung als Kulturkirche seit den 90er Jahren ist eine Reaktion auf hohe Instandhaltungs- und Renovierungskosten, sinkende Mitgliederzahlen und nur noch rund 40 Gottesdienstbesucher in einer Kirche mit eigentlich 1.000 Plätzen.

Zahlreiche historische Sakralbauten befinden sich in zentraler Stadtlage und sind für schrumpfende Kirchengemeinden inzwischen überdimensioniert. Um sie nicht ganz aufzugeben, setzen inzwischen viele Gemeinden auf Kultur – nicht zuletzt, um auch Menschen anzusprechen, die sonst nicht den Weg hierherfinden. So auch in Nürnberg, wo St. Egidien eine von vier protestantischen Innenstadtkirchen ist. Die im Krieg zerstörte und wieder neu aufgebaute Barockkirche bietet seit mehr als 20 Jahren Platz für Tanz, Videokunst, Installationen, Aufführungen, bildende Kunst und Musik. Seit einem Jahr finden hier regelmäßig Tanzmeditationen statt.

„Wir erreichen dabei die lokale Tanzszene, die sich freut, dass Kirche sich für solche Ausdrucksmöglichkeiten öffnet. Dabei kommt es zu Begegnungen mit tanzfreudigen Gemeindemitgliedern“, sagt Pfarrer Thomas Zeitler, für das Kunst- und Kulturprogramm zuständig.

St. Johannis Hamburg-Altona, Max-Brauer-Allee 199: 20. 9., 19 Uhr Tango: Konzert & Milonga, Live & DJ, www.kulturkirche.de

St. Jakobi Hildesheim, Jakobikirchgasse: 13. 9., 19.30 Uhr Spielzeit­eröffnung mit Musik und neuer Ausstellung, www.stjakobi.de

Pauluskirche Bremerhaven, Hafenstr. 124: 1. 9. - 15. 9. Ausstellung auf.um.ab Brüche, www.pauluskirche-bremerhaven.de

Näheres zu Sankt Peter in Köln, Jabachstr. 1, unter www.sankt-peter-koeln.de, zu St. Matthäus Berlin, Matthäikirchplatz, unter www.stiftung-stmatthaeus.de und zu St. Egidien Nürnberg, Burgstraße, unter www.egidienkirche.de

Termine zu Kulturveranstaltungen in weiteren evangelischen Kirchen finden sich auch unter www.kulturkirchen.org. (jg)

Er blickt gespannt auf die gerade eröffnete und bis Ende September laufende Ausstellung „Woodstock – The exhibition“, zu deren Begleitprogramm Konzerte, Bodypainting und Tanz zur Musik von 1969 gehören. „Es gab Anfragen, was das eigentlich mit Kirche zu tun hat. Doch Woodstock ist ein wichtiges Kulturphänomen, an dem wir uns reiben wollen. Außerdem bestehen enge Bezüge zu den Themen Frieden und Spiritualität“, sagt Zeitler und fügt hinzu: „Wir haben durch die Kirchenleitung große Unterstützung, sind sehr frei und können experimentieren.“

In Hildesheim hat sich St. Jakobi mitten in der Altstadt zu einem Literaturhaus entwickelt, wo mehr oder weniger bekannte Schriftsteller regelmäßig lesen, es Werkstattgespräche und Erzählabende gibt. Nach einer Befragung von 350 Gästen von St. Jakobi ist die Mehrheit der Besucher weiblich, älter als 50 Jahre und hat studiert. Man kommt, um Bekannte zu treffen und einen Autor kennenzulernen. Als positiv werden die zentrale Lage, die besondere Akustik und die von Gemeinschaft geprägte Atmosphäre in der 500 Jahre alten einstigen Pilgerkirche genannt, in der nach wie vor Gottesdienste stattfinden. Zur Frage nach dem Besonderen von St. Jakobi gab es Antworten wie „Natürlich ist es schöner, hier etwas zu erleben als im Audimax, weil der Raum so sakral und spannend ist und im Moment cool gestaltet ist“, oder „Ich finde es echt erstaunlich, wie mit diesen relativ einfachen Mitteln so eine wunderbare Atmosphäre gezaubert werden kann.“

Die Berliner St. Matthäus-Kirche lädt regelmäßig Künstler ein, Altarbilder auf Zeit zu schaffen und bei Ausstellungen mit den Besuchern über ihre Arbeit ins Gespräch zu kommen. Zudem finden hier häufig Orgelandachten und Gottesdienste mit besonderen Inhalten und Formen statt. Als Ziel wird eine „gehaltvolle Auseinandersetzung zwischen Theologie und Ästhetik“ genannt – damit zielt die mitten im Berliner Kulturforum gelegene und von Hochkultur umgebene Kirche auf ein eher intellektuelles Publikum ab.

Die Paulus-Gemeinde Bremerhaven versucht dagegen, auch arme Menschen im Problemstadtteil Lehe mit Kultur zu erreichen. Dort stehen neben Ausstellungen Musik und Tanz im Mittelpunkt. „In einen normalen Gottesdienst kommen bei uns 20 bis 40 Menschen, beim Tangogottesdienst mit Predigt, Gesang und Tanz dagegen auch schon mal 120 Besucher“, sagt Andrea Schridde, Pastorin in der Pauluskirche, und ergänzt: „Die Kultur baut für viele Menschen eine Brücke zur Kirche. Von Künstlern höre ich nicht selten: ‚Ich bin Agnostiker, aber der Gottesdienst hat für mich etwas Neues erschlossen.‘“

Bisher war von evangelischen Kulturkirchen die Rede, doch es gibt auch katholische Beispiele. Die Kunst-Station Sankt Peter in Köln, dessen Turm in großen Buchstaben die Botschaft „DON’T WORRY“ weit sichtbar verbreitet, präsentiert sich den Besuchern weitgehend ohne Gestühl und Bilder. „Ein leerer Raum der Spiritualität, der von Künstlern immer wieder neu gestaltet wird. Ihre Arbeiten konfrontieren mit existenziellen Fragen und inspirieren das Leben der Gläubigen im Gottesdienst“, heißt es auf der Homepage der Jesuiten-Gemeinde.

Ein leerer Raum der Spiritualität, der von Künstlern immer neu gestaltet wird

Seit 1987 finden in der spätgotischen Kirche neben Ausstellungen Aufführungen, Lesungen und Konzerte statt. Ein aus einem Theologen und fünf Kunsthistorikern bestehender Beirat entscheidet darüber, welche Künstler eingeladen werden. Zu den ständig präsentierten Kunstwerken gehört das Gemälde „Kreuzigung Petri“, das vom Maler Peter Paul Rubens einst für Sankt Peter angefertigt wurde. Mittwochs bis sonntags ist von 12 bis 18 Uhr geöffnet – lange Öffnungszeiten sind ein Merkmal vieler Kulturkirchen.

Unter der Überschrift „Wozu Kulturkirchen?“ geht Albert Drews als einer der Herausgeber des Buches „Kulturkirchen“ auf die Bedeutung der Kirchen für kulturelle Aktivitäten ein. Er verweist auf den Bericht der Bundestagsenquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, wonach Protestanten und Katholiken rund 4 Milliarden Euro jährlich und damit etwa 20 Prozent ihrer Einnahmen unter anderem für ihre Museen, Chöre, Musikensembles, Büchereien und Baudenkmale ausgeben.

Drews unterstreicht, dass gerade auf Dörfern Kirche häufig der einzige Veranstalter von Filmabenden, Konzerten oder Ausstellungen ist, und betont den Grundsatz: „Stets geht es um die Begegnung mit Gegenwartskultur und weniger um die Bewahrung von Traditionen und kirchlichem Kulturerbe.“