In der Flugschule mit Lilith

Sollen wir mal ein Bier trinken? Das Kollektiv „Szene zeigen“ rückt vor in das Land Sachsen-Anhalt und sucht den Austausch

Das Stück eröffnet wie ein Gong das Festival. Wir lachen und weinen alle ein bisschen

Von Katrin Eissing

Das Kollektiv „Szene zeigen“ stellt in seinem allerersten Festival auf dem Land fünf sehr junge freie Theatergruppen mit neuen Produktionen vor. Und zwar „auf der Schaumkrone Sachsen-Anhalts“, in einer alten Segelflugschule bei Laucha an der Unstrut, die in den 30ern des letzten Jahrhunderts während des Nationalsozialismus gebaut wurde. Anschließend lange als Krankenhaus genutzt, steht sie seit den 90ern leer. „Szene zeigen“ lud dazu ein, zusammenzukommen, Theater und Kunst zu feiern, gemeinsam zu essen, zu spielen und sich zu trauen, „Verantwortung für den Ort zu übernehmen.“

Beim Abendessen sitze ich einem Mädchen mit blauen Händen gegenüber. Wir haben beide rote Nudeln vor dem Mund. Sie meint auf meinen fragenden Blick hin: „Na ja, ich hab den ganzen Tag die Zeitmaschine gestrichen.“ Das erste Theaterstück am Freitag „Lilith – Mutter der gemischten Vielzahl“ ist als ein „Trashschöpfungsmythos auf der Suche nach Freiheit“ angekündigt und zeigt zwei Göttinnen, die mit einer Stimme reden. Sie wissen erst noch nicht, dass sie viele sind und erschaffen die Welt, um das dabei zu lernen. Eine Geschichte von Menschen, Plastiksauriern und Puppen gespielt. Auch die aus Schlamm erschaffene Lilith wünscht sich ein „Gegenüber“ und Gott selbst teilt sich in „viele“, wird menschlich. Das ist kitschig und witzig, ohne zynisch zu sein. Ergreifend auch die tolle Singstimme von Lilith. Der letzte Satz lautet: „Sollen wir mal ein Bier trinken ­gehen?“

Das Stück eröffnet wie ein Gong das Festival. Licht geht an. Wir lachen und weinen alle ein bisschen. Ich: weil Theater funktioniert und die ca. 200 Menschen um mich her so jung und klug sind. Die Crew, die das Festival aufgebaut hat, wohl auch aus Erschöpfung.

Es wird in allen Stücken, die ich während des Wochenendes sehe, um Auflösung und Erschaffung, Identitätssuche innerhalb dieser pendelnden Bewegung gehen. Einerseits großspurig, andererseits wie Atmen. Ekstatisches Rumgespritze wird jedenfalls gleich in der nächsten Performance „Eine polyamore Pissoiree“ ziemlich ausgiebig veräppelt: Bashing des Geniebegriffs als verklemmte Schnappatmung.

Unter dem Kastanienbaum am Abend strahlen Gesichter und Lichterketten. „Die Speisung der 5000“ entpuppt sich als leckere Gemüsesuppe. Ich weiß vor lauter Rührung nicht, wo mich hinsetzen, und lausche einem Gespräch über Feminismus als Idee der Inklusion. Zum Beispiel: „Solange Männer wegen ihres Geschlechtes ausgegrenzt werden, sind die Grenzen definiert“ gegen „kann nicht funktionieren“.

Ein bisschen veganer Genderwahnsinn. Es geht auch um Sehnsucht, wilden Sex, und wie schwer es ist, darüber zu reden. Ich lerne die „Electric Ladys“ kennen, Lena und Ka. Sie helfen bei der Elektrik. Junge Männer wirken allgemein eher als gute, ruhige Backgroundtechniker oder Köche mit. Über Rollenverteilung im Kollektiv zu sprechen, besteht wohl keine Dringlichkeit. Jedenfalls nicht öffentlich. Alle sind sehr freundlich.

Zurück im Heim der Luftsportjugend nebenan, wo ich übernachte, erlebe ich noch, wie zwei Flugschüler mit ziemlich heftigen Schlägen in die Gemeinschaft der „Alleinflieger“ aufgenommen werden.

Am nächsten Morgen zurück auf dem Festivalgelände: Frühstück vorbereiten. Sarah bestellt 500 frische Brötchen in einer Bäckerei der Gegend. Wir blicken von der alten Segelflugschule ins Tal wie Göttinnen ins Paradies. Von Nahem wirken die Städte nun grau, arm und erschrocken: Was ist nur passiert? In welche Zeit bin ich geraten? Wem gehören die Weinberge?

Es folgt „The Universe Resembles Nothing“, ein Stück von Bruno Brandolino. Er versucht mit seinem Körper Sexprojektionsflächen wieder zurückzuspiegeln. Also praktisch sieht das so aus: Eine Stunde lang spielt der nackte Schauspieler ohne eindeutiges Geschlecht die unterschiedlichsten Pornoszenen und Geräusche, die seit Jahren unser aller Wahrnehmung umschwirren, live nach. Das ist unerträglich, aber ich halte durch und am Ende zeigt er uns sein klares Jungsgesicht.

Das Kollektiv will „das Gefälle zwischen Stadt und Land abbauen. Dabei verstehen wir uns nicht als städtische Kulturbringende, sondern wollen miteinander lernen und Erfahrungen austauschen.“ Das ist ein sympathischer Ansatz.

Ich geh jetzt mal fliegen.