„Zur rechten Zeit geboren“

Barock-Orgelbauer Arp Schnitger, dessen 300. Todestag auch das Bremer Musikfest würdigt, profitierte vom Wirtschaftsboom nach dem Dreißigjährigen Krieg. Aber auch vom Willen der Marschbauern an Nordsee und Weser, mit den Städten gleichzuziehen und sich repräsentative Orgeln zu leisten

Erklingt zur Eröffnung des Schnitger-Schwerpunkts des Musikfestes Bremen: Schnitgers Orgel in der St.-Pankratius-Kirche in Neuenfelde Foto: Miguel Ferraz

Interview Petra Schellen

taz: Herr Vogel, hat Arp Schnitger wirklich einen neuen Orgelklang erfunden?

Harald Vogel: Ja. Schnitger hat die Orgel für einen neuen Gebrauch fit gemacht. Bis dahin wurde die Orgel ausschließlich liturgisch benutzt, indem sie an bestimmten Stellen im Gottesdienst spielte. Vom 17. Jahrhundert an setzte man die Orgel aber auch zur Begleitung des Gemeindegesangs ein. Dazu musste das Instrument brillanter und lauter klingen, und dieses Timbre hat Schnitger entwickelt. Es war das erste Mal in der Musikgeschichte, dass so monumentale Klänge – von der unteren bis zur oberen Hörgrenze – zu hören waren. Berühmt wurde Schnitger durch seine erste große Hamburger Orgel in St. Nicolai, die leider 1842 verbrannte. Von da an bekam er Auftrag um Auftrag – nicht nur an der Nordseeküste, sondern bis Portugal und Russland.

Schnitger war nicht der Einzige, der solche Orgeln baute.

Nein. Aber er hat dieses Grundmodell entwickelt und es durch geschicktes Marketing geschafft, dass sich seine Konkurrenten nicht so entfalten konnten. Er hatte Privilegien bei den umliegenden Fürsten und pflegte gute Kontakte zu den Freien Reichsstädten Hamburg, Bremen und Lübeck und betrieb ein geschicktes Werkstattsystem.

Dieses Filialsystem hat nicht Schnitger erfunden.

Doch, ziemlich. Das gab es zwar in geringem Maße schon vorher, aber eigentlich hat Schnitger es entwickelt. Seine Hauptwerkstatt lag in Hamburg, später in Neuenfelde im Alten Land, woher seine erste Frau stammte und wo er auch begraben liegt. Nach 1700 verlegte er seine Produktion nach Neuenfelde, weil in Hamburgs Innenstadt die Pest wütete. Vorher und gleichzeitig betrieb er auch Werkstattfilialen in Bremen, Groningen, Magdeburg, Berlin. Zudem war er preußischer Hof-Orgelbauer, denn seine Orgeln waren hochwertig, nachhaltig und funktionieren auch nach 300 Jahren.

Warum sind von 170 Schnitger-Orgeln nur 47 erhalten?

Weil die betreffenden Kirchengemeinden irgendwann zu viel Geld hatten und sie durch eine modernere Orgel ersetzten. Man muss bedenken, dass die aus den 17. Jahrhundert stammenden Schnitger-Orgeln schon im 19. Jahrhundert historische Instrumente waren, auf denen man nach-barocke Musik nicht gut spielen konnte. Dass es heute noch Schnitger-Orgeln gibt, liegt also am Geldmangel einiger Gemeinden einst.

Sie erwähnten Schnitgers effektive Geschäftspraktiken. Welche waren das?

Vor allem verfolgte Schnitger das Konzept der Qualität. Es sprach sich herum, dass Schnitger-Orgeln perfekt funktionierten. Das war bei vielen Mitbewerbern, die billiger waren, anders, weil sie nicht so gute Materialien nutzten. Auch konnten Schnitgers Orgeln mit geringem Know-how jahrzehnte-, jahrhundertelang instand gehalten werden.

Schnitger-Orgeln waren also die teuersten von allen?

Sie lagen im ganz oberen Preissegment, ja. Allerdings sind Orgeln schwer vergleichbar. Für einen bestimmten Preis bekomme ich eine höherwertige Orgel mit 25 Registern oder eine mit 35 Registern. Die bietet mehr Klangfarben, hält aber nicht so lange.

Viele Schnitger-Orgeln stehen in Dörfern an der Nordsee und im Alten Land. Warum konnten sich die Bauern das leisten?

Weil es den Landwirten der fruchtbaren Marschen im 17. Jahrhundert wirtschaftlich gut ging. Das wollten sie zeigen – auch durch den Kauf wertvoller Orgeln, wie sie sie in den Städten gesehen hatten. Dabei wollte jedes Dorf die repräsentativste haben – auch wenn sie, nach heutigen Maßstäben, eine Million Euro kostete wie in Lüdingworth bei Cuxhaven. Teils hat Schnitger auch günstige Zahlungsbedingungen gewährt und die Gemeinden bis zu 20 Jahre lang abbezahlen lassen.

Beruhte der Wohlstand der Bauern auch auf dem Wirtschaftsboom nach dem Dreißigjährigen Krieg?

Ja, das ist ein wichtiger Grund für Schnitgers Erfolg: Er lebte zur rechten Zeit am rechten Ort. Er wurde 1648 geboren, im Schlussjahr des Dreißigjährigen Krieges. Dann brauchte man 20 Jahre, um die Kriegsschäden aufzufangen, und anschließend begann ein Wirtschaftswunder, sodass sich die Bauern diesen Luxus leisten konnten.

Und wo steht heute die best­erhaltene Schnitger-Orgel?

Foto: Günther W. Schnell

Harald Vogel, 67, Organist und Professor an der Hochschule für Künste Bremen, ist einer der führenden Interpreten norddeutscher Orgelmusik und ein Pionier der historischen Aufführungspraxis. Er war federführend an der Wiederentdeckung der Schnitger-Orgeln beteiligt.

Die berühmteste und größte steht in Hamburgs St.-Jacobi-Kirche. Das hölzerne Gehäuse verbrannte im Zweiten Weltkrieg, aber Pfeifen und Technik sind intakt, der Klang ist also orginalgetreu. Am besten erhalten im umfänglichen Sinne ist die Orgel in Cappel bei Bremerhaven. Sie stand früher in Hamburg. Am ursprünglichen Ort steht die Orgel in Dedesdorf an der Weser. Sie ist nicht so groß, aber – außer den sichtbaren Prospekt-Pfeifen, die im Ersten Weltkrieg eingeschmolzen wurden – komplett erhalten.

Die Cappeler Orgel hat auch Schnitgers Wiederentdeckung befeuert.

Ja, sie wurde weltberühmt durch die „Archiv“-Produktion der Deutschen Grammophon 1950/52. Damit hat die Plattenfirma damals PR für ihre neue Presstechnik gemacht, bei der erstmals der gesamte Frequenzbereich auf einem Tonträger wiedergegeben wurde. Durch diese weltweit vertriebenen Platten ist auch Schnitger zu einem globalen Kulturprodukt geworden. Bis heute werden auch in den USA, Kanada, Japan und Korea Schnitger-Orgeln nachgebaut.

Der Nachbau-Hype überrascht, denn die kleinen Klaviaturen von Schnitger-Orgeln eignen sich fast nur für Barockmusik.

Ja, eine historische Orgel bedeutet natürlich eine Festlegung auf ein begrenztes Repertoire. In Hamburgs Jacobi-Kirche hat man, um das zu lösen, in den 1950er-Jahren eine zweite, eher romantisch orientierte Orgel danebengestellt.

Dieses Jahr wird Schnitgers 300. Todestag begangen, auch beim Schnitger-Schwerpunkt des Bremer Musikfests. Starb er wirklich am 28. 7. 1719 in Neuenfelde, wo er begraben liegt?

Nein, das ist der dokumentierte Begräbnistag. Wann und wo er starb, wissen wir nicht genau. Im Kirchenarchiv seines Geburtsortes Golzwarden in der Wesermarsch wurde am 15. 7. vermerkt, dass Schnitger „vor etwa 14 Tagen“ gestorben sei. Wir vermuten, dass er in der ersten Juli-Woche in Itzehoe oder Glückstadt starb. In Itzehoe betreute er sein letztes Projekt, das er nicht mehr fertigstellen konnte. Möglich aber auch, dass er zu dieser Zeit aber auch in Glückstadt einen Kostenanschlag für die Reparatur der dortigen Orgel vorbereitete, gesundheitliche Probleme bekam und starb.

Beginn des Arp-Schnitger-Festivals beim Musikfest Bremen: 25. 8., 17 Uhr, Neuen­felde, St.-Pakratius-Kirche; www.musikfest-bremen.de