Schriftstellerin Karina Sainz Borgos: „Logik aus Rache und Ressentiment“

Nichts wie weg: Karina Sainz Borgos brisanter Roman „Nacht in Caracas“ verhandelt den Zerfall des ehemaligen Modellstaates Venezuela.

Eine Frau, Karina Sainz Borgos

„Ich ging, weil ich das Land nicht mehr wiedererkannte“ – Karina Sainz Borgos Foto: Eva-Christina Meier

taz am wochenende: Frau Sainz Borgo, als Sie Venezuela verließen, regierte noch Präsident Hugo Chávez. Was bewog Sie damals, nach Spanien auszuwandern?

Karina Sainz Borgo: Als ich 2006 wegging, hatte das Land noch eine demokratische Struktur und die Regierung von Hugo Chávez agierte im legalen Rahmen. Nicht so wie heute, wo das totalitäre Panorama des Regimes offensichtlich und nicht zu leugnen ist. Trotzdem existierten schon damals sehr viel Gewalt und eine Polarisierung der Gesellschaft. Die Regierung hatte zwar noch sehr viele Unterstützer, doch es gab bereits sichtbare politische Spannungen auf der Straße.

Wurden Sie persönlich bedroht?

Ich ging nicht etwa, weil ich bedroht oder verfolgt worden wäre, sondern weil ich das Land nicht mehr wiedererkannte. Ich arbeitete bereits als Journalistin. Tatsächlich war es schwierig geworden, Journalismus zu betreiben. Als ich nach Spanien kam, war es für mich sehr schmerzhaft, aus der Entfernung mit zu verfolgen, was sich in Venezuela weiter ereignete.

In Spanien waren und sind Sie weiter als Journalistin tätig. Mit „Nacht in Caracas“ ist nun Ihr erster Roman erschienen. Wie kam es dazu?

Im Journalismus gefallen mir Reportageformate wie die Cronica. Aber in der neuen Situation in Spanien spürte ich bald den Drang, auch fiktionale Texte zu schreiben. So entstanden zunächst zwei unveröffentlichte Romane, die bereits von Gewalt, Erinnerung und Geschichte handeln. Im Roman entdeckte ich einen Raum, der mir geeigneter als der des Journalismus erschien, um bestimmte Sichtweisen besser darzustellen zu können. Etwa, wie man in einer Erzählung Schönheit festhalten kann und dennoch gleichzeitig von Gewalt und Hass sprechen – das hat mich sehr stark beschäftigt.

Die Autorin und ihr Buch:

Karina Sainz Borgo, 1982 in Caracas, Venezuela geboren, lebt seit 2006 in Madrid. Dort arbeitet sie als Journalistin. „Nacht in Caracas“ (Originaltitel: „La hija de la española“) ist ihr erster Roman.

Karina Sainz Borgo: „Nacht in Caracas“. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 2019, 224 Seiten, 21 Euro

Obwohl Sie es nicht ausdrücklich benennen, beschreiben Sie in „Nacht in Caracas“ die Verhältnisse unter der jetzigen Regierung von Nicolás Maduro, in der Stromausfälle, Plünderungen und Lebensmittelknappheit zum Alltag in Venezuela geworden sind. Ausgehend vom Tod und der notdürftigen Beerdigung der krebskranken Mutter lassen Sie über Adelaida Falcón die Frauen einer Familie und über diese die Frauen des Landes betrachten. Warum haben Sie diese weibliche Perspektive gewählt?

Es ist eine fast phantasmagorische Erzählung. Die politischen Hintergründe werden in ihr nicht unmittelbar erwähnt. Ein informierter Leser kann das interpretieren, ohne dass ich in meinem Roman die Namen nenne. Es wird ohnehin viel zu viel von ihnen gesprochen. Aber niemand spricht von Geschichten wie der von Adelaida Falcón, von ihnen gibt es Hunderte im Land. Ihnen, diesen Unsichtbaren, wollte ich eine literarische Stimme geben.

Wie würden Sie die Stellung der Frau in der venezolanischen Gesellschaft verallgemeinernd charakterisieren?

Die Gesellschaft, in der ich aufwuchs, ist eine von Müttern organisierte. Und obwohl es eine starke weibliche Präsenz in der Kultur Lateinamerikas gibt, sind es nicht die Frauen, die bestimmen. In der venezolanischen Gesellschaft sind die, die unter den Verhältnissen am schwersten zu tragen haben, die Frauen. Sie halten den Betrieb aufrecht, auch wenn die Väter abwesend sind. Dennoch dreht sich die gesamte künstlerische und historische Darstellung in der Kultur Venezuelas um die Frau als große Kraft, die leuchtet und Leben spendet, dabei aber gewalttätig und widersprüchlich erscheint. Mit diesem Element wollte ich arbeiten.

„Der ‚Sozialismus des 21. Jahrhunderts‘ war ein Weg, um etwas zu zerstören, aber nicht um etwas aufzubauen“

Die gebildete, alleinerziehende Mutter der Erzählerin war die erste ihrer Familie, die zum Studium aus der Provinz nach Caracas ging. Welche Generation von venezolanischen Frauen repräsentiert sie?

Sie gehört zu denen, die in den 1950er Jahren geboren wurden und dank der Demokratie und eines öffentlichen Bildungssystems Zugang zu Schulen und Universitäten erhielten. Adelaida Falcóns Mutter ist die Generation meiner eigenen Mutter. Sie studierten und arbeiteten, weil ihnen die Möglichkeit gegeben wurde, die ihre Mütter nicht hatten. Für die Geschichte des Landes ist diese Generation entscheidend. Mit ihr beginnt eine Periode des Fortschritts. Es entsteht eine Mittelschicht, die sich bildet und besser lebt. Diese Entwicklung fällt zusammen mit dem Erdölboom in Venezuela.

Die Figur der „Marschallin“, die als selbstbewusste Anführerin einer Gruppe von Regierungstreuen mit Gewalt die Wohnung der Erzählerin besetzt, erscheint dazu wie die Antithese. Was für eine Person ist sie?

Die Marschallin ist eine Art Gegenentwurf, doch sie leidet unter dem gleichen Übel wie Adelaida Falcón. Klar, sie ist eine Täterin. Im Ursprung aber ist sie ein Opfer der sozialen Unterschiede, einer extremen Armut, die ihr keine andere Perspektive bietet, als sich in den Schatten anderer zu flüchten, um mit ihnen aufzusteigen. Zum ersten Mal hat sie etwas Autorität, und die verwendet sie gegen andere. Mit dieser Figur wollte ich den Blick auf einen Teil der Gesellschaft richten – auf jene Leute, die ein politisches Projekt unterstützt haben, weil sie wussten, dass sie in einem Land, dessen Reichtum schlecht verteilt ist, anders nicht zum Zuge kommen würden. Doch das ist kein sozialer Aufbau, sondern die Errichtung eines System aus Begünstigungen. Auch die Marschallin erhält solche Vorteile und handelt mit den subventionierten Lebensmitteln.

Zu den wenigen Männern Ihrer Erzählung gehört San­tiago, der verschwundene Student und Bruder von Adelaidas Freundin Ana. Wofür steht er?

Santiago ist die Zukunft. Seine Familie hat alles dafür getan, um ihm ein Studium zu ermöglichen. Doch plötzlich ist er ein Gefangener und wird zum Objekt der Gewalt, nur weil er demonstriert hat. Die Figur erinnert an die vielen Studenten und jungen Venezolanerinnen der letzten Protestwelle 2017. Diese Zukunft des Landes wird unterdrückt, ausradiert und gebrochen. In der Erzählung wird Santiago zum Söldner gemacht. Und stets bleibt ein Zweifel, das Unbehagen darüber, was er begangen haben könnte. Denn das ist Teil der Strategie eines totalitären Regimes: nicht nur zu unterdrücken, sondern auch Misstrauen zu säen.

Im Nachwort betonen Sie, dass es sich bei dem Buch um eine fiktive, literarische Geschichte handelt. Dennoch beschreibt Ihr Roman mit schmerzhafter Deutlichkeit die Funktionsweise des totalitären Systems in Venezuela?

Ich will vermeiden, dass der Roman als ein Katalog von faktischen Ereignissen interpretiert wird. Das wäre Journalismus. Das hier ist nicht die Wahrheit, sondern eine Wahrheit, die die Fiktion anbietet. Wir sprachen zu Beginn dieses Gesprächs davon, dass Literatur Raum für Widersprüche und Vielschichtigkeit schaffen kann. „Nacht in Caracas“ ist eine Geschichte über den Verlust, über die Überlebenden und die Schuld, die sie empfinden. Das ist etwas sehr Universelles in totalitären Prozessen.

Trotzdem sind die Verbrechen im Fall Venezuelas konkret dokumentiert: Amnesty International spricht von 8.000 außergerichtlichen Hinrichtungen zwischen 2015 und 2017.

Das stimmt. Der Bericht von Amnesty ist sehr umfangreich. Allein im letzten Jahr hat die Zahl außergerichtlicher Hinrichtungen durch die Regierung in den ärmeren Vierteln sogar noch zugenommen, um zu verhindern, dass die Leute protestieren. Das heißt: Meine Erzählung basiert auf realen Gegebenheiten. Aber sie gibt nicht vor, eine journalistische Version von etwas zu sein, das andere sehr viel mutiger, ernsthafter und verantwortungsvoller als ich bereits dokumentiert haben.

Früher war das Mittelmeer Zentrum der Identität Europas, heute wenden sich die Menschen von ihm ab. Ein Essay über ein Meer, das Hilfe braucht – in der taz am wochenende vom 17./18. August. Außerdem: Die Polizei möchte Bienen zur Drogenfahndung einsetzen. Science Fiction oder bald Realität? Und: In Belgien bekommen Obdachlose schnell eine Wohnung, in Deutschland nicht. Eine Reportage. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und bei Facebook und Twitter.

In „Nacht in Caracas“ ziehen Gruppen wie die „Motorisierten des Vaterlandes“ oder die „Kinder der Revolution“ marodierend durch die Hauptstadt und terrorisieren ihre Bewohner. Wie konnte sich das einstige Versprechen von Fortschritt in Venezuela in solch einen Alptraum verwandeln?

Dasselbe frage ich mich auch. Ich glaube, es hat in Venezuela nie ein kollektives Projekt gegeben, das eines wirklichen Fortschritts. Mit einer Logik aus Rache und Ressentiment wurden die Eliten nun ausgetauscht. Alle haben offene Rechnungen. In der schizophrenen Rhetorik des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ fand sich der Weg, um sich zu rächen. Um etwas zu zerstören, aber nicht um etwas aufzubauen. Ich glaube, dass sowohl der Chavismus als auch die Regierung Maduros darauf fußt, in einer Gesellschaft mit großen Unterschieden noch größere Gegensätze zu schaffen: der Chavist und der Nicht-Chavist. Der Arme und der Oligarch. Das Volk und der Ausbeuter. Aus den ursprünglichen ideologischen Entgegensetzungen entstanden neue: der, der geht, und der, der bleibt. Der, der Brot organisiert, und der, der keins bekommt. Der, der das Brot auf dem Schwarzmarkt teuer kauft, und der, der es nicht bezahlen kann. Eine Unmenge an Ressentiment und Misstrauen hat die venezolanische Gesellschaft gespalten und tiefe Wunden hinterlassen.

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