Buch über erotisches Erbe der Muslime: Verklärte islamische Romantikwelt

Der Theologe und Blogger Ali Ghandour möchte zurück in die islamische Vormoderne. Am Elend der Gegenwart ist nur eine schuld: die westliche Moderne.

Zwei muslimische Männer haben sich weiblich gekleidet und schminken sich

In einer dualen Frau-Mann-Welt verkleiden Jungen sich als Frauen, um andere Männer zu unterhalten Foto: KELLY THOMAS/GAMMA/Eyedea Presse/GAMMA-RAPHO/laif

BERLIN taz | Gegenwärtig fällt die muslimisch geprägte Lebensweise vor allem durch ihren verkrampften Umgang mit Fragen von Lust und Sexualität auf. Ein Umgang, der hauptsächlich die Frau einem moralisierenden bis gewalttätigen Regulations- und Überwachungsregime unterwirft, während für den Mann großzügiges Laisser-faire gilt.

Diese Schamhaftigkeit sei eine Entwicklung jüngeren Datums, die von einem falschen Verständnis religiöser Fundamentalien des Islam geprägt sei, so der muslimische Theologe und als Aufklärer gehandelte Blogger Ali Ghandour in seinem neuen Buch „Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime“. Dagegen beschwört er eine dezidiert lustfreundliche und tolerante Tradition herauf, durch die sich die islamische Welt der Vormoderne ausgezeichnet habe.

Die aus der christlichen Moral bekannte Dämonisierung von Körper und Lust findet sich weder im Koran noch in den Hadithen. Vielmehr wird hier das sexuelle Begehren als Teil der von Gott geschaffenen Natur des Menschen begriffen und konnte deswegen auch theologisch gesehen nicht negativ sein. Lüste konnten genussvoll ausgelebt werden, solange sie sich im religiös und rechtlich sanktionierten Rahmen bewegten.

Ghandour erörtert zum einen religiöse und rechtliche Rahmenbedingungen und Debatten über die Frage des Erlaubten und Verbotenen im islamischen Reich der Lüste. Themen wie Ehe und Polygamie kommen hier zur Sprache, legitime Genussbeziehungen jenseits der Ehe und Prostitution, die trotz koranischen Verbots weniger unterbunden als pragmatisch gesteuert wurde. Und auch homoerotische Beziehungen zwischen Männern und Männern und Knaben waren weit verbreitet und wurden trotz rechtlicher Verbotsnormen großzügig toleriert bis gefeiert.

Der Diskurs über den Umgang mit den Lüsten

Zum anderen fokussiert der Autor Diskurse über Körperlichkeit und lustfördernde Praktiken, die mit großer Offenheit in erotischer Literatur, sufistischer Mystik und kamasutraähnlichen Sexratgebern erörtert wurden. Die islamische Welt, so wird Ghandour nicht müde zu betonen, lasse sich realiter nicht auf religiöse Dogmen(befolgung) reduzieren. In Anlehnung an den Islamwissenschaftler Thomas Bauer attestiert er den Muslimen der Vormoderne eine hohe „Ambiguitätstoleranz“, vor allem, wo es um ihren alltagspraktischen Umgang mit religiösen Ge- und Verboten ging.

So entsteht die Vorstellung einer libertären muslimischen Ethik im Umgang mit den Lüsten, die jedoch, wie der Autor eingangs selbst feststellt, nicht repräsentativ ist. Vielmehr handelte es sich um Diskurse, die lediglich von einer Minderheit überwiegend männlicher intellektueller Eliten und Oberschichten der urbanen Zentren geführt wurden und also über deren Lebenswandel Auskunft geben.

Auch die Tatsache, dass die hier beschworene Lusttoleranz für Frauen nur äußerst bedingt galt, macht die Repräsentativität des beschworenen Bildes einer islamischen Laisser-faire-Moral nicht größer. Trotzdem vermittelt der Autor immer wieder den Eindruck, es handele sich um eine jahrhundertealte, gesellschaftsweit verbreitete „Tradition“ der Toleranz.

Der Traditionsbruch

20 Seiten reichen Ghandour, um den Hauptverantwortlichen auszumachen, der für den Untergang dieser jahrhundertealten, lustfreundlich-ambigen muslimischen Tradition genauso verantwortlich ist wie für den Aufstieg einer religiös fundierten, repressiven Sexualmoral, dank derer Länder wie Saudi-Arabien auch heute noch vor allem ihre weibliche Bevölkerung drangsalieren. „Durch die Kolonialherrschaft kam es zu einem Traditionsbruch, von dem die Muslime sich bis heute nicht erholt haben“, schreibt er, und viel differenzierter wird es auch nicht mehr.

Das Buch mündet in einen islamischen Opferdiskurs, bei dem die Forderung nach einer differenzierteren Betrachtungsweise der Realitäten hinter großen Allgemeinplatzbegriffen nicht mehr zählt. Es entsteht das von Kenntnis kolonialer Herrschaftsrealität wenig getrübte Bild einer handstreichartigen Gleichschaltung, die in der muslimischen Welt um 1900 stattgefunden zu haben scheint, Gleichschaltung an „christlich-viktorianische“ Wertvorstellungen, an Körper und Lüste, pathologisierende Wissenskategorien und an eine Moderne, die sich vor allem auf westlich importierten Eindeutigkeits­terror reduziert.

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Genauso wenig wie die islamische Welt gab es jedoch „die Kolonialherrschaft“ im Singular. Und sie bemächtigte sich auch nicht der kompletten islamischen Welt, um sie reibungslos nach ihrem eigenen Werteverständnis zu formen. Saudi-Arabien blieb weitgehend frei von kolonialer Herrschaft und entwickelte trotzdem den wohl bösartigsten, religiös legitimierten, auf Geschlechterapartheid fußenden totalitären Eindeutigkeitsterror, den wir heute kennen.

Aus feministischer Sicht reaktionär

Dies allgemein unter Reaktion auf „die westliche Moderne“ zu subsumieren, ist bemerkenswert reduktionistisch. Ganz davon abgesehen, dass Muslime hier bar jeder eigenen Handlungsfähigkeit erscheinen, die bloß auf vermeintlich allmächtige europäische Kolonialmächte reagieren. Wie insgesamt deren Durchsetzungsfähigkeit im Blick auf die sexuellen Sitten und Gebräuche der von ihnen Unterworfenen erheblich überschätzt erscheinen. Das passiert, wenn man zwischen Diskursen und Realität nicht mehr unterscheidet.

Es bedürfte größerer historischer Expertise, um Einflussprozesse kolonialherrschaftlicher Mächte und westlicher Wertbegriffe auf islamische Gesellschaften angemessen abzuhandeln. Postkoloniale Diskursanalyse in betagter Edward-Said-Tradition reicht da sicher nicht. Ghandour möchte zwar seine Ausführungen nicht als den Vergleich einer blühenden Vergangenheit mit einer problemreichen Moderne verstanden wissen. Genau dieser Eindruck entsteht jedoch. Letztlich geht es auch um eine Apologie der islamischen Glaubensordnung, über deren ganz eigenständigen Sexismus und hausgemachte Frauenfeindlichkeit man hier nur wenig liest.

Aus feministischer Perspektive erscheint „Liebe, Sex und Allah“ vor allem reaktionär. Der beschworene Traditionsbruch zwischen Vormoderne und Gegenwart in der muslimischen Welt und Kultur ist aus weiblicher Sicht nicht ganz so brechend. Sexismus und Frauenverachtung sind auch dieser Religion inhärent und immer schon inhärent gewesen, wie ein Blick in Koran und Hadithe deutlich machen kann. Die Frau ist dem Manne untertan – auf diesem Glaubensgrundsatz ruht die islamische Religion. Es bedarf nicht weniger als einer sexuellen Revolution, um damit wirklich zu brechen.

Ali Ghandour: „Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime“. C.H. Beck, München 2019, 218 S., 16,95 Euro

Ghandour dagegen wünscht sich eine gläubig fundierte Reformierung der muslimischen Lebensweise unter Bezug auf vormoderne islamische Ideen, die er für progressiv und tolerant hält. Die Forderung einer sexuellen Revolution hat er kürzlich in einem ZDF-Gespräch als politische Floskel abzutun versucht. Ihm sei unklar, auf welchen theologischen Erklärungen und ethischen Normen eine solche Revolution basieren solle. Er begreift gar nicht, dass es bei einer solchen Revolution ja genau um das Gegenteil geht: die Ablehnung eines Lebens auf gläubigen Stützrädern.

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