„Warum nicht einfach mal faul sein?“

Nicht alles zu verstehen kann manchmal weiterbringen. Sebastian Nübling, Hausregisseur am Maxim Gorki Theater, über seine Arbeit mit Texten von Heiner Müller und Heinrich von Kleist

Sebastian Nübling. Ob dieses Foto Arbeit war oder Nichtarbeit, bleibt offen Foto: Esra Rotthoff

Interview Nicholas Potter

Sebastian Nübling, 1960 geboren, inszeniert seit vielen Jahren in Basel und ist seit 2013 Hausregisseur am Berliner Maxim Gorki Theater. Die Premiere seiner Inszenierung von Heiner Müllers „Herzstück“ eröffnet die neue Spielzeit des Gorki in einem Container, weil das Theater saniert wird. Auch seine Inszenierung von Kleists „Verlobung in St. Domingo“ in einer Überschreibung von Necati Öziri, die zuerst in Zürich herauskam, feiert Ende des Monats in Berlin Premiere. Ein Gespräch über deutsche Autoren, antikapitalistische Clowns und marktbedingte Selbstoptimierung.

taz: Herr Nübling, „Herzstück“ ist Ihre zweite Heiner-Müller-Inszenierung mit Schau­spieler*innen aus dem Exil-Ensemble am Gorki. Ist es als Fortsetzung zu verstehen?

Sebastian Nübling: Es gibt schon Verbindungen. „Hamletmaschine“ haben wir mit sieben Clowns inszeniert, und dann haben wir nach einem anderen Heiner-Müller-Text gesucht und sind auf „Herzstück“ gestoßen, das er für zwei Clowns geschrieben hat. Es ist eher eine Weiterführung mit diesen Clownfiguren.

„Herzstück“ besteht aus nur 14 Zeilen. Wie füllt man denn damit einen ganzen Theaterabend?

Das hat sich Heiner Müller ja auch schon gefragt und gesagt, das Ding sei viel zu kurz. Das hat man in einer Minute gesprochen, und es ist durch.

Ist es also nur ein Gag oder doch ein zu wenig beachtetes Meisterwerk?

Man kann sehr viel daraus lesen. Eine Zeile lautet: „Darf ich Ihnen mein Herz zu Füßen legen“? Als Schauspieler ist das eigentlich mein Job. Aber was mache ich damit, wenn mein Job darin besteht, auf dieser Bühne eine Liebesgeschichte zu spielen, und ich dabei ja überhaupt nicht so drauf bin. Es muss sofort eine Verschiebung vom Privaten ins fiktionale Bühnenuniversum geben. Ich bin Teil eines arbeitenden Ensembles auf einer Bühne für Leute, die dafür bezahlt haben und da sitzen, um sich unterhalten zu lassen. Oder arbeitet das Publikum auch mit? Von diesem Satz ausgehend ,kann man sehr weit denken.

Auch Müllers „Hamletmaschine“ ist sehr offen für Interpretationen. Robert Wilson hat sogar zugegeben, das Stück nicht verstanden zu haben.

Es gibt vom Alexander Verlag eine Sammlung von Audioaufnahmen von Heiner Müller. Er liest seine eigenen Stücke knochentrocken wie ein Sprach­roboter. Diese Sammlung wird mit einem Zitat von Jürgen Kuttner beworben, der sagt: Heiner Müller ist der Einzige, der seine Texte lesen kann, weil er nicht so tut, als würde er sie verstehen. Und das bringt es genau auf den Punkt. Das Heiner-Müller-Universum ist sehr reichhaltig – auch noch für heute. Es geht nicht um Verstehen. Es geht darum, was man aus so einem Text rauszieht.

Was haben Sie denn aus dem Stück herausgezogen?

Im Stück geht es darum, dass ein Herz herausoperiert wird. Als wir es zusammen gelesen haben, sind wir bei dem Satz „arbeiten und nicht verzweifeln“ hängen geblieben und haben über Konzepte von Arbeit und Nichtarbeit nachgedacht. Im Kunstkontext kommt man ganz schnell auf die Idee von „Kunst als Nichtarbeit“. Und in der bildenden Kunst gibt es viele Positionen, die sich damit auseinandersetzen. Entsteht Kunst nur im Moment der Vermarktung, also wenn ich in eine Galerie gehe? Der kroatische Künstler Mladen Stilinović hat uns in­spi­riert. Er hat ein „Lob der Faulheit“ geschrieben, worin er sagt, dass er als Nichtstaatskünstler im Osten gar keine Möglichkeiten hatte, gar keine Galerie, in der er ausstellen konnte. Für ein Werk mit dem Untertitel „artist at work“ hat er sich ins Bett gelegt.

Welche Rolle spielen hier also Clowns?

Clowns repräsentieren Kunst als Nichtarbeit. Im Zirkus füllen sie traditionell eigentlich nur die Pause zwischen den eigentlichen Artisten, die wirklich was draufhaben. Sie machen nur irgend­welche Späße zwischendurch.

Deshalb wollen Sie das Konzept Arbeit und Nichtarbeit kritisch hinterfragen.

Wir müssen definieren, was für uns Arbeit ist. Wer setzt da die Maßstäbe? Und wie kommt es dazu, dass wir alle so bereitwillig am Machen sind? Dann kommt man zu der Frage, was die eigene Leistung ist und wie man sie erbringt. Das Gefühl, nicht zu genügen oder zumindest nicht genug zu machen, gibt es überall, aber wohl vor ­allem in kreativen Berufen. Dieses Ich muss noch diesen Film gesehen und dieses Buch gelesen haben – und das macht man alles in seiner Freizeit. Dann kommt man auf diese Phrase Selbstoptimierung zurück: Und man vermutet, der Markt verlangt etwas von uns. Es kommt aber nicht von außen, sondern ist ganz viel internalisiert.

In ihrem Buch „MRX Maschine“ schreibt Luise Meier, dass sie den Begriff „Proletariat“ für obsolet hält. Als Klasse gibt es das nicht mehr, aber stattdessen gibt es ein inneres Proletariat: Wir haben diese ganzen Zwangsvorgänge nach innen verlagert. Also sind wir bereit dazu, uns optisch, mental und emotional weiter fortzubilden – natürlich unbezahlt. In der Leistung kontrollieren und disziplinieren wir uns permanent und gegenseitig.

Ist es so schlimm, sich selbst optimieren zu wollen?

Warum nicht einfach mal faul sein? Warum einfach nichts machen? Die beste Version ist immer nur für den Markt gedacht, aber die beste Version von mir selbst ist ganz oft, wenn ich alleine zu Hause rumhänge. Da fühle ich mich wohl.

Wie würde denn Ihr Arbeitsprozess, komplett befreit von Marktoptimierungszwängen des kapitalistischen Alltags, aussehen? Stellen Sie sich vor, Sie hätten keine Deadline für Ihr nächstes Stück.

Die Premiere von „Herzstück“ von Heiner Müller am 17. August am Maxim Gorki Theater ist zugleich die Eröffnung der neuen Spielstätte in einem Container vor dem Theater, weil die Bühne im großen Haus noch saniert wird.

Am 30. August folgt „Die Verlobung von St. Domingo – ein Widerspruch“ von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist, ebenfalls im Container.

Ab September wird wieder auf der großen Bühne im Maxim Gorki Theater gespielt.

Es gibt einen super Film von Charlie Kaufmann, „Synec­doche, New York“. Der Protagonist, ein Regisseur, versucht ewig lange die Stadt New York in einer Lagerhalle nachzubauen. Ich stelle mir das einfach so vor, einfach proben, bis ich irgendwann den Löffel abgebe. Aber diese Deadline ist doch gut, denn sie gibt mir einen Rahmen, innerhalb dessen ich mich frei bewegen kann. Am 17. August muss ich halt eine Premiere rausballern.

Sie haben auch Necati Öziris Fassung der „Verlobung in St. Domingo“ inszeniert. Seine Überschreibung wird schon im Titel als „Widerspruch“ angekündigt. Das Stück sei nicht „nach“, sondern „gegen“ Kleist. Warum?

Necati Öziri erkennt rassistische Konzepte in Kleists Novelle, die nicht weitergeführt oder benannt werden, und das ist ein Problem. Er baut zudem den historischen Kontext wieder ein, etwa dass die Revolution auf Haiti Gründe hatte und auch Gott sei Dank gelungen ist, und thematisiert die Frage der Legitimation von Gewalt. Wo ist bei Kleist der Kontext? Wo sind bei Kleist die Bedenken gegen die relativ unhinterfragte Benutzung von Rassismen, und wo ist die politi­sche Agenda, vor allem der schwarzen Figuren? Necati gibt ihnen diese Agenda zurück.

Heiner Müller und Kleist, klassische deutsche Autoren – sind sie gerade für das Gorki-Theater wichtig?

Für das Gorki ist Necati Öziri wichtig und weniger Kleist. Und klar, Heiner Müller ist dadurch, dass er selber ein Grenzgänger war, eine hybride Figur vom Selbstverständnis her. Er war gleichzeitig privilegiert und unterprivilegiert, verboten in der DDR, hofiert in der BRD. Er ist eine interessante Figur für das Gorki, weil man merkt, dass er eine brüchige, ambivalente, multiperspektivische Identitäts­konstruktion hat.

Was ist das Gorki-Theater für Sie?

Das Gorki an sich ist erst einmal ein Freiraum. Und das Tolle daran ist, dass Leute aus so vielen unterschiedlichen Ecken zusammenkommen und man wirklich versucht, gemeinsam und auf Augenhöhe miteinander zu arbeiten. Dass man versucht, die Maschine, die das Haus als Stadttheater trotzdem ist, irgendwie zu sabotieren, zu hinterfragen, aufzuhalten. Das Gorki sind für mich die Leute, die hier arbeiten – auf allen ­Ebenen.