Erst traf es Gelbwesten, jetzt geht es alle an

Der Tod eines jungen Franzosen bei einem Polizeieinsatz führt zu landesweiten Protesten

„Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Land eine solche Entwicklung zu einem repressiven Polizeistaat erleben würde“

Demonstrant in Paris

Aus Paris Rudolf Balmer

Trotz eines polizeilichen Demonstrationsverbots im Zentrum der westfranzösischen Stadt Nantes trafen sich dort am Samstagmittag mehrere hundert Menschen zum Gedenken an den 24-jährigen Steve Maïa Caniço, der in der Nacht auf den 22. Juni bei einem Einsatz zur Beendigung einer Techno-Party in der Loire ertrunken war. Von mit Gummiknüppeln schlagenden Polizisten wurden damals die Jugendlichen gejagt, vierzehn von ihnen fielen in der Panik und wegen des Tränengasnebels in die Loire. Einer blieb verschwunden: Steve. Erst mehr als einen Monat später wurde seine Leiche im Fluss geborgen.

Auch in Orléans, Poitiers, ­Lille, Amiens, Marseille sowie in Paris demonstrierten jetzt Tausende von Personen. Für sie ist Steve zum Symbol einer dramatischen Gefährdung der Bürgerrechte in Frankreich geworden. Viele der Teilnehmenden trugen gelbe Westen, denn auch bei den Gelbwesten-Protesten der letzten Monate waren unzählige Menschen bei Interventionen der Ordnungskräfte zum Teil schwer verletzt worden. Auf der Kundgebung in Paris sagt Dorian, ein 32-jähriger Handwerker, zur taz: „Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Land eine solche Entwicklung zu einem repressiven Polizeistaat erleben würde. Wenn man weiß, wohin das in anderen Ländern geführt hat, weil sich die Bürger nicht gewehrt haben, muss man sich mobilisieren.“

Was dann in Nantes im Verlauf des Nachmittags passierte, war eigentlich genau, was die Polizeipräfektur mit ihrem Versammlungsverbot offiziell vermeiden wollte. Nach einer würdigen Trauerfeier am Loire-Ufer, wo vor einer Woche die Leiche des Ertrunkenen geborgen worden war, formierte sich ein Demonstrationszug in Richtung Innenstadt mit Slogans gegen die Polizei und die Regierung. Die Zusammenstöße mit den Ordnungskräften ließen nicht lange auf sich warten. Die mit Wurfgeschossen angegriffene Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein. Mit Stühlen und Baumaterial errichteten Demonstrierende Barrikaden, die sie in Brand steckten. Mehrere Schaufenster von Banken und Geschäften gingen zu Bruch. Laut Behörden wurden sechzig Personen festgenommen, ein Polizeibeamter und ein Demonstrant wurden verletzt.

Im Nachhinein stellt sich die Frage, ob diese Eskalation in Nantes nicht vermeidbar gewesen wäre – oder ob sie von der Obrigkeit gewollt war. Der Tod von Steve hat breite Betroffenheit ausgelöst. Mit dem Demonstrationsverbot, das dann doch nicht durchgesetzt werden konnte, goss der Polizeipräfekt noch zusätzlich Öl ins Feuer.

Ebenso provokativ war für Steves Freunde der interne Untersuchungsbericht der polizeilichen Inspektionsbehörde IGPN, in dem jegliche Verbindung zwischen dem Tod von Steve und der Intervention der Polizei geleugnet wird. Die Regierung hat weitere Aufklärung verlangt. Zudem wird wegen „fahrlässiger Tötung“ ermittelt. Die beiden damit betrauten Ermittlungsrichter wollen aufgrund von Pressionen aber den Fall abtreten.